Grundlagenartikel

   

 

Nachbarschaft, die Frieden schafft - Dialog und Begegnung der Religionen

 

Nachbarschaft, die Frieden schafft...

 

Es reizt, beim Thema des Kirchensonntags gleich am Anfang den „Wilhelm Tell“ zu zitieren:

 

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!“  Auf den ersten Blick ist die Schillersche Lebensweisheit auch nach 200 Jahren unverändert aktuell. Mit einem wesentlichen Unterschied: Was damals als lokaler Konfliktfall geschildert wurde, zeigt sich heute als globale Realität: „Kampf der Kulturen“ nennen es die einen; „Globalisierung des Terrors“ die andern. Und vielfach sind Religionen unheilvoll darin verstrickt. Zugespitzt lässt sich fragen: Sind es nicht gerade die „Frömmsten“ (fundamentalistischer Prägung), die gegenwärtig die Konflikte schüren und damit eine friedliche Nachbarschaft der Völker und Kulturen erschweren?

 

Tatsache ist: Durch die weltumspannende Globalisierung von Wirtschaft, Politik, Technologie und Kommunikation sind auch die Religionen näher zusammen gerückt. Menschen sind in Bewegung mitsamt ihren Religionen. Mobilität, Flüchtlingsbewegungen und Migration aus wirtschaftlichen Gründen haben dazu geführt, dass heute mehr Menschen unterschiedlichen Glaubens als je zuvor Seite an Seite leben. Und weil diese Entwicklung nicht rückgängig zu machen ist, stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob es ein Zusammenleben der Kulturen und Religionen geben soll, sondern nur noch: Wie kann dieses Zusammenleben friedlich und konstruktiv gestaltet werden?

 

Unsere Möglichkeiten als einzelne, die weltpolitische Entwicklung zu beeinflussen sind beschränkt. Die Gestaltung des friedlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft, das allerdings liegt in unserer Hand. Wenn wir uns hier für mehr Integration in der Nachbarschaft, für mehr Wertschätzung und Akzeptanz, für mehr persönliche Begegnungen und Dialog zwischen den Religionen einsetzen, dann ist dies die beste Antwort auch auf internationale Konflikte. Interreligiöser Dialog an einem Ort kann tatsächlich ein wichtiger Beitrag zur Friedensstiftung und Versöhnung an einem anderen Ort sein.  Auch hier gilt - leicht  abgewandelt – eine Einsicht aus dem „Tell“: In der eigenen Gesellschaft muss beginnen, was leuchten soll in der Völkergemeinschaft…

 

 

Religion und Migration

 

Die Gegenwart „fremder“ Religionen in unserem Land ist ein relativ junges Phänomen. Während des grössten Teils des 20. Jahrhunderts kamen die meisten Einwanderer aus dem südlichen Europa (Italien, Spanien, Portugal). Doch gegen Ende der sechziger Jahre hat sich die bislang vorwiegend katholische Immigration mit neuen Einwanderungsbewegungen verändert. Die Schweiz, die damals dringend Arbeitskräfte benötigte, nahm die ersten Immigranten muslimischer Religionszugehörigkeit auf, die die Anforderungen der Wirtschaft erfüllten. Türkische Staatsangehörige machten den Anfang. Ihnen folgten bald Jugoslawen. Die meisten dieser muslimischen Einwanderer dachten nicht daran, sich auf Dauer in der Schweiz niederzulassen. Sie verhielten sich völlig unauffällig und ihre Kultur und Religion blieben fast ausschliesslich auf den Privatbereich beschränkt. Erst der gesetzlich ermöglichte Familiennachzug in den siebziger Jahren führte zu einer grundlegenden Veränderung der muslimischen Präsenz in der Schweiz, die nunmehr dauerhaft wurde.

 

Eine parallele Einwanderung, die auch in den sechziger Jahren einsetzte, hatte weniger wirtschaftliche als politische Gründe. Mit Asylsuchenden aus dem Mittleren Osten, aus dem früheren Jugoslawien (vorwiegend Bosnien und dem Kosovo), aus Nordafrika und den afrikanischen Ländern südlich der Sahara dauert diese Zuwanderung bis heute an. Bürgerkriege, Diktaturen und Hungersnöte zwingen Menschen aus diesen Regionen, Asyl aus politischen oder humanitären Gründen zu suchen. Aus denselben Gründen haben Menschen aus anderen Kulturen und Religionen in den siebziger und achtziger Jahren Zuflucht in der Schweiz gesucht: Flüchtlinge aus ostasiatischen Ländern („boat people“) mit vorwiegend buddhistischer Religionszugehörigkeit sowie tamilische Flüchtlinge aus Sri Lanka, die mehrheitlich dem Hinduismus angehören.

 

Wir leben heute in der Schweiz somit de facto in einer multireligiösen Gesellschaft. Zwei neue Komponenten sind in jüngster Zeit hinzugekommen. Einerseits Kinder und Enkelkinder der Immigrantenfamilien, die in der Schweiz geboren sind und hier zur Schule gehen, die also hier verwurzelt sind. Für diese Muslime, Buddhisten und Hindus der zweiten und dritten Generation ist die Schweiz mindestens ebenso sehr Heimat wie die Ursprungländer ihrer Väter und Grossmütter.

 

Andererseits gibt es eine wachsende Zahl von Personen, die zu anderen Religionen übergetreten sind. Von den gegenwärtig ca. 350'000 Muslimen in der Schweiz etwa beträgt der Anteil der Konvertiten rund 10%.

 

Religionslandschaft im Synodalverband Bern–Jura–Solothurn

 

 

1970

2000

Religion/Konfession

Absolut

Anteil (%)

Absolut

Anteil (%)

Reformiert

772'184

72

659'521

60

Römisch-katholisch

269'988

25

244'314

22

Keine Zugehörigkeit

6'779

1

95'100

9

Andere Protestanten

18'550

2

38'082

3

Islamisch

1'866

 

36'157

3

Christlich-orthodox

1'362

 

11'087

1

Andere Religion

704

 

10'882

1

Christkatholisch

3'570

 

1'860

 

Andere christliche Kirchen

519

 

1'512

 

Jüdisch

1'238

 

878

 

Total

1'076'760

100

1'099'393

100

 

 

Dialog des Lebens

 

In seinen Anfängen war der Dialog zwischen den Religionen in der Schweiz hauptsächlich ein Spezialgebiet von Experten. Er wurde primär akademisch geführt und hatte weitgehend exotischen Charakter. Heute hat uns die Realität eingeholt. Aufgrund der erwähnten wirtschaftlichen und politischen Migrationen leben Menschen anderen Glaubens als Mitbürgerinnen und Mitbürger mit uns zusammen. Vor allem der Islam, die grösste ausserchristliche Religionsgemeinschaft in der Schweiz, ist aus dem Stadium einer Gastarbeiterreligion herausgewachsen und zu einer schweizerischen Religion geworden.

 

Wir leben also in einer Gesellschaft mit einem hohen religiösen Durchmischungsgrad in verschiedenen Lebensbereichen. Eine Fülle von Fragen, die früher eher akademischer Natur waren, berühren zunehmend den Alltag: Die Moschee im Stadtteil, die hinduistische Nachbarin im Quartier, der muslimische Arbeitskollege, die buddhistische Spielgefährtin im Kindergarten, die jüdische Mitschülerin. Der akademische Dialog wird zum Dialog des Lebens.

Verschiedene Gruppen und Gremien in unserem Kirchengebiet  pflegen diesen praxisbezogenen Dialog seit Jahren sehr intensiv. So zum Beispiel die Christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft, die schon seit Jahrzehnten besteht; so die Gemeinschaft von Christen und Muslimen, die 1990 in der Zeit des Golfkrieges in Bern gegründet wurde; so der Runde Tisch der Religionen in der Stadt Bern, an dem sich seit 14 Jahren Vertreterinnen und Vertreter der fünf Weltreligionen regelmässig treffen. Das jüngste und verheissungsvollste Projekt stellt das im Aufbau befindliche Projekt Haus der Religionen – Dialog der Kulturen dar. In ihm bündeln sich viele Erfahrungen, Energien und Hoffnungen für das künftige interreligiöse Zusammenleben in unserer Region.

 

Im Zentrum des Dialogs an diesen verschiedenen Orten stehen Situationen und Erfahrungen des Alltags:

 

die Situation am Arbeitsplatz
das gemeinsame Lernen in Kindergärten und Schulen
das Leben in bireligiösen Ehen und Familien
die Situation von Patienten verschiedener Religionen in den Spitälern
die Regelung der Bestattung der Toten verschiedener Religionen auf den Friedhöfen

 

Erfreulicherweise sind in diesen Lebensbereichen in den letzten Jahren einige praktische Fortschritte erzielt, Lösungen erarbeitet und Modelle des Zusammenlebens entwickelt worden. Dazu gehören die Einrichtung eines interreligiösen Raums der Stille im Inselspital in Bern, einer Abdankungshalle für alle Religionen auf dem Friedhof Bümpliz, eines muslimischen Gräberfeldes auf dem Bremgartenfriedhof in Bern.

 

In den vielen Gesprächen  haben die Beteiligten aus allen Religionen vor allem eines gelernt: Im Dialog des Lebens werden Glaubensfragen zu Lebensfragen und Lebensfragen zu Glaubensfragen. Es braucht viel Zeit, Geduld und Beharrlichkeit, um den Umgang miteinander praktisch einzuüben. Und es braucht einen Vertrauensprozess, der von unten wächst und genährt wird von persönlichen Begegnungen im Alltag. Gute Kontakte ergeben sich nicht von selbst, sie müssen bewusst gesucht und gepflegt werden. Vorurteile und Ängste lassen sich nicht verdrängen und wegreden, vielleicht aber schrittweise weg-erleben.

 

 

Religion und Integration

 

Die Erfahrungen im Dialog des Lebens sind gleichermassen wichtige Beiträge im Prozess der Integration. In diesem Prozess müssen beide Seiten – Einheimische und Zugewanderte - Schritte tun. Aber die Ausgangslage ist nicht für beide Seiten dieselbe. Während die drei Landeskirchen und die jüdischen Gemeinden in unserem Kirchengebiet öffentlich-rechtliche Anerkennung mit allen Rechten und Pflichten geniessen, ist dieser Status den anderen Religionen bisher vorenthalten. Diese asymmetrische Ausgangslage sollte für die anerkannten Religionen Anlass sein, den ersten Schritt zu tun und vertrauensbildende Massnahmen zu ergreifen. Die Toleranz einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie Mehrheiten mit Minderheiten umgehen.

 

Wenn Angehörige anderer Religionen in unserer Gesellschaft ihren Glauben praktizieren wollen, ist ihnen dies durch die in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit garantiert. Dieser Verfassungsgrundsatz legt im Prinzip eine Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften nahe. Gleichwohl stossen diese in der praktischen Umsetzung immer wieder an Grenzen. Beispiele dafür in der jüngsten Zeit sind etwa

 

Die Kontroversen bei Gesuchen für die Errichtung religiöser Bauten (Moscheen, Tempel, Pagoden)
Die Debatten bei der Einführung eines muslimischen Religionsunterrichts
Die Regelungen der Kommunen für Gräberfelder für andere Religionen
Die fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten für Geistliche anderer Religionen an unseren Hochschulen

 

Lösungen für diese Fragen sind Schritte zur Integration der Religionsgemeinschaften in unserer Gesellschaft. Sie sind die Voraussetzung, damit eine friedliche und konstruktive Koexistenz gelingen kann. Integration darf dabei nicht mit Assimilation verwechselt werden. Integration heisst Aushandeln unterschiedlicher Lebensentwürfe und religiöser Prägungen im gemeinsam anerkannten Rechtsraum der Verfassung und des demokratischen Rechtsstaats. Gleiches gilt auch für die Religionsfreiheit. Sie ist ein juristisch hochkomplexes, mit anderen Grundrechten konkurrierendes Gut. Beispiele für ein immer neues Aushandeln der verschiedenen Rechtsgüter haben die öffentliche Debatte der letzten Jahre regelmässig erhitzt: Der Dauerbrenner „Kopftuchfrage“, die Auseinandersetzungen um die Mohammed-Karikaturen, die Kontroversen um den Bau von Minaretten. Eine konfliktvorbeugende Verständigungsarbeit, so hat sich gezeigt, ist in solchen Auseinandersetzungen ebenso wichtig wie die rechtsstaatliche Regelung.

 

 

Streitfall Kopftuch

Ein Symbol, das immer wieder  zu kontroversen Debatten über Integrationsfragen führt, ist das islamische Kopftuch. So vielfältig die Praxis beim Tragen des Kopftuchs ist, so unterschiedlich sind die Interpretationen und Reaktionen darauf: Für die einen ist das Kopftuch ein religiöses Symbol, für andere ein Identitätsmerkmal, für wieder andere eine Bekleidungspraxis einer bestimmten kulturellen Tradition. Manche sehen es als Schutz für die gläubigen Musliminnen, andere als patriarchales Symbol der Unterwerfung der Frauen oder als Instrument für politische Forderungen. Neben der Vielfalt der Auslegungen und Vorstellungen ist ebenso bemerkenswert, dass die einschlägigen Koranverse einen breiten Auslegungsspielraum bieten. Ausgesprochen liberale Interpretationen sind in der islamischen Welt offenbar genau so gültig wie extrem konservative.

 

Weil das Kopftuch sowohl kulturelle wie auch religiöse Praktiken berührt, ist es häufig schwierig zu einem Konsens zu kommen. Die grundlegenden Fragen lauten: Wie viel Differenz verträgt eine offene Gesellschaft? Wo kommen kulturelle und religiöse Praktiken in Konflikt mit den Grundrechten, z.B. der Gleichberechtigung der Geschlechter? Damit Integration gelingen kann, braucht es somit ein ständiges Abwägen der verschiedenen Rechte und Pflichten, um von Fall zu Fall zu einer verträglichen Lösung zu kommen. Das schweizerische politische System bietet dank seines Pragmatismus’ und der Erfahrung im Umgang mit kulturellen Minderheiten Wege zur Bewältigung derartiger Konflikte.

 

 

Dies gilt auch für die strittige Frage der öffentlich-rechtlichen Anerkennung von weiteren Religionsgemeinschaften. Unsere Kirche sollte auf der Grundlage des Evangeliums für die Gleichbehandlung und Öffnung gegenüber den ausserchristlichen Religionen eintreten. Neben der biblisch-theologischen Motivation steht hier ebenso das Anliegen der Integration: Eine öffentlich-rechtliche Anerkennung hätte den Vorteil, dass die Religionsgemeinschaften mit allen Rechten und Pflichten Teil des Rechtsstaats werden. Sie werden dadurch öffentlich wahrnehmbar und haben die Möglichkeit an demokratischen Strukturen und Abläufen zu partizipieren. Die Alternative wäre auf die Dauer verhängnisvoll: Eine soziale und religiöse Gettoisierung und das Entstehen von Parallelgesellschaften, die häufig zum Nährboden fundamentalistischer Tendenzen werden.

 

 

Streitfall Minarett

Das jüngste Beispiel einer umstrittenen Integrationsfrage bildet die aktuelle Kontroverse über Baugesuche für Minarette in verschiedenen Gemeinden. Minarette stehen bei manchen im Verdacht, „Symbole der Macht“ zu sein, mit denen der Islam seine Präsenz in unserer Gesellschaft aufdringlich markieren will. Für andere sind Minarette prinzipiell gleich zu behandeln wie andere religiöse Symbole im öffentlichen Raum, etwa Kirchtürme.

 

Es gilt zu beachten: Minarette sind – wie etwa orthodoxe Kirchen auch – zunächst einmal Bauprojekte. Für Baugesuche gibt es baurechtliche Kriterien. Ob eine extreme Gruppierung bauen darf, ist allenfalls eine Frage für den Staatsschutz. Skepsis und kritische Rückfragen sind dabei durchaus am Platz, sofern alle Religionsgemeinschaften mit gleichen Ellen gemessen werden. Die entscheidende Frage ist jedoch auch hier die der Integration, und diese stellt sich so oder so. Und der Integration dient mehr, wenn Religionen aus den Hinterhöfen herauskommen, eine Gesicht erhalten und in der Öffentlichkeit transparenter werden.

 

 

Umgekehrt erfordert der Wunsch nach öffentlich-rechtlicher Anerkennung entsprechende Schritte auf Seiten der Religionen: Der Aufbau transparenter, demokratischer Organisationen und die Respektierung der Glaubensfreiheit anderer, einschliesslich des Rechts auf einen Wechsel der Religion. Es sind also erhebliche Integrationsleistungen erforderlich, zu der beide Seiten einen Beitrag leisten müssen. Auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft muss die politische und soziale Akzeptanz noch wachsen, damit eine Volksabstimmung zur öffentlich-rechtlichen Anerkennung überhaupt Aussicht auf Erfolg haben kann. Dafür kann die Bildungsarbeit der Kirchen und der bestehenden interreligiösen Gruppen einen wichtigen Beitrag leisten.

 

 

Wahrheitsgewissheit und Begegnungsoffenheit

 

Im Dialog des Lebens, der Menschen in persönlichen Begegnungen zusammenführt und nach verträglichen Formen des Zusammenlebens suchen lässt, kann Vertrauen wachsen. Es ist die Grundlage, dass Angehörige verschiedener Religionen in ein vertieftes Glaubensgespräch eintreten können. Es gehört zu den glückhaften Momenten der interreligiösen Begegnung, wenn Menschen einander mitteilen, was sie vom innersten Kern ihres Glaubens her bewegt. Und wo Vertrauen gewachsen ist, wird es auch möglich sein, kritische Fragen aneinander zu stellen. Im Dialog, so lässt sich immer wieder erfahren, müssen beide Seiten Ansprüche aneinander stellen, müssen versuchen, zu überzeugen ohne zu bekehren.

 

Im diesem Dialog sind alle Teilnehmenden verwundbar. Die Erfahrung, an trennende, scheinbar unüberwindbare Grenzen und Glaubensdifferenzen zu stossen, kann schmerzhaft sein. Dennoch lebt die dialogische Begegnung davon, dass die Teilnehmenden ihre Überzeugungen unverkürzt einbringen. Sie kann durchaus den konstruktiven Streit um die Wahrheit einschliessen. Wenn auch der Streit um die Wahrheit letztlich nicht entschieden werden kann, so ist er doch zu führen. Als konstruktives Ringen kann er tiefer in die je eigene Glaubensgewissheit hineinziehen. Mit anderen Worten: Je offener wir für den Glauben anderer sind, je mehr wir sie in tiefsten Überzeugungen ernst nehmen und gelten lassen, desto kostbarer und tiefer kann uns der eigene Glaube werden. Und umgekehrt: Je ernster wir unseren eigenen Glauben nehmen, des offener und unbefangener können wir Menschen einer anderen Religion begegnen. Das schliesst nicht aus, dass eigene Gewissheiten in Frage gestellt werden, sich verändern und erweitern. Dabei kann nicht nur die fremde Tradition, sondern auch die eigene in einem anderen Licht erscheinen. Diese Erfahrung kann sehr herausfordernd und irritierend sein, sie kann aber gerade dem eigenen Glauben einen grössere Weite und Tiefe geben.

 

Zu den Unterschieden zu stehen, sie deutlich zu machen, sie auszuhalten – das ist die eine Voraussetzung für einen authentischen Dialog. Ebenso wichtig ist eine andere: Im Dialog die grossen spirituellen Schätze zu heben, die allen Religionen gemeinsam sind. Der Theologe Hans Küng hat dies auf seine Weise mit dem Projekt „Weltethos“ versucht, indem er auf gemeinsame ethische Weisungen in allen Religionen verweist (Goldene Regel, Zehn Gebote u.a.) Die Herausforderung reicht jedoch tiefer: Damit Religionen ihre Frieden und Versöhnung fördernden Kräfte stärken und ihre gewaltfördernden und aggressiven Tendenzen eindämmen können, müssen sie sich mit den Inhalten der Religionen selbst kritisch beschäftigen. Deshalb geht es im Dialog um eine konkrete Arbeit an den Quellen und Texten der eigenen Religion und an den Quellen und Texten der jeweils anderen Religionen. Eigentlich müsste zum Beispiel jeder Koranschüler in der Schweiz auch die Bibel studieren – und umgekehrt in der kirchlichen Unterweisung der Koran gelesen werden.

 

 

Gemeinsam feiern und beten?

 

Es gibt Situationen, in denen es zu einer interreligiösen Begegnung auf der Ebene des Betens und Feierns kommt. Wer sich im Alltag nahe kommt, sich füreinander öffnet und einander an den Freuden und Sorgen des Lebens Anteil gibt,  kann auch einmal den Wunsch verspüren, die anderen an dem teilhaben zu lassen, was einem selbst am kostbarsten ist und am tiefsten geht: die Praxis des Glaubens, der Vollzug des Betens, des Lobens, des Feierns.

Daneben haben aussergewöhnliche Situationen – politische Konflikte, Kriege, Naturkatastrophen – mancherorts das Bedürfnis geweckt, in einer gemeinsamen religiösen Feier bewusst ein Zeichen des Friedens und der Verständigung zu setzen und deutlich zu machen: gerade gläubige Menschen haben vieles, was sie verbindet; sie wissen sich aus ihrer je eigenen Tradition heraus gemeinsam zum Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung verpflichtet.

Und schliesslich lässt eine weitere Situation nach Möglichkeiten einer gemeinsamen religiösen Praxis fragen: der Wunsch eines gemischtreligiösen Paares nach einer Traufeier, die die religiösen Traditionen beider Seiten aufnimmt.

 

Wie weit können solche Begegnungen aber gehen? Können und sollen Christinnen und Christen an Feiern teilnehmen, in denen sie religiösen Riten von Angehörigen anderer Religionen beiwohnen, vielleicht sogar aufgefordert werden, ein gemeinsames Gebet mitzusprechen? Stehen die verschiedenen Namen, die angerufen werden, für ein und dieselbe Gotteswirklichkeit oder für verschiedene Götter? Und geschieht bei solchen interreligiösen Feiern nicht unzulässige Religionsvermischung (Synkretismus)?  Diese Fragen sind heute kontrovers. Während interreligiöse Gebete von den einen entschieden befürwortet und gerne besucht werden, lehnen sie andere dezidiert ab. Welches wäre demnach die angemessene Art und Weise einer christlichen bzw. kirchlichen Beteiligung an solchen Feiern?

 

In der ökumenischen Bewegung ist für die Zusammenarbeit zwischen den Kirchen eine Verhaltensregel aufgestellt worden, die lautet: Was Kirchen gemeinsam tun können, sollen sie zusammen tun; das Trennende zwischen ihnen soll dabei aber nicht verschwiegen werden. Im übertragenen Sinn sollte das auch für das interreligiöse Feiern und Beten gelten. Dabei muss aber sichergestellt sein, dass allen Beteiligten klar wird: Wenn ich an diesem Anlass teilnehme, verleugne ich meinen Glauben nicht, und ich gebe auch nicht meine Zustimmung zu Vorstellungen, die ich ehrlicherweise nicht teilen kann.

 

Beispiele und Erfahrungen in den letzten Jahren haben gezeigt: Interreligiöse Feiern sind sinnvoll und möglich, wenn sie in einem Geist respektvoller Gastfreundschaft durchgeführt werden und wenn in ihnen ein gemeinsames spirituelles Anliegen zum Ausdruck kommt, zum Beispiel die Sehnsucht nach Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung. Dazu gehört, dass die Einzigartigkeit jeder Religion geachtet wird. Bei der Durchführung sind deshalb einige Regeln zu beachten:

 

eine sorgfältige gemeinsame Vorbereitung
klare Zielvorgaben und Rahmenvereinbarungen, die jede Form von Synkretismus oder Proselytismus ausschliessen
Absprachen über den geeigneten Versammlungsort
Regelung der Zuständigkeiten für den liturgischen Ablauf
Eine Information (Begleitblatt) zum besseren Verständnis der anderen Religionen und zur Erläuterung der Inhalte und des Ablaufs der interreligiösen Feier.

 

Wenn neue Formen des Feiern und Betens gewagt werden, birgt dies immer auch Risiken und bietet meistens Angriffsflächen. Sie sind deshalb auf einen Vertrauensvorschuss angewiesen, auf Transparenz und eine theologisch verantwortliche, selbstkritische Prüfung. Der Kirchensonntag 2008 könnte dafür in den Kirchgemeinden ein wichtiges Lernfeld sein. Und ein Beispiel für das tiefste Anliegen einer interreligiösen Feier: ein menschlicher Dienst an der Versöhnung.

 

 

Der Kirchensonntag als Chance

 

Der Kirchensonntag 2008 ist eine Gelegenheit, die multireligiöse Situation in unserem Land am eigenen Ort, in der lokalen Gemeinde, zu erfahren und zu gestalten. Der erste Schritt dafür ist die Wahrnehmung der Situation selbst. Welche Menschen aus anderen Religionen leben überhaupt in unserer Mitte? Haben wir sie schon bewusst wahr genommen? Wo begegnen wir ihnen im Alltag der Gemeinde - am Arbeitsplatz, im Wohnquartier, in Kindergarten und Schule? Der Kirchensonntag könnte zur Chance werden, erste persönliche Kontakte zu knüpfen oder schon bestehende zu vertiefen. Dafür einige Tipps und Anregungen für die Vorbereitung und Durchführung in den Gemeinden:

 

Organisieren Sie Begegnungen! Machen Sie damit die Vielfalt der andern Religion menschlich erfahrbar.
Fragen Sie in den Treffpunkten und Zentren der anderen Religionen an, ob ein Besuch zum persönlichen Kennen lernen möglich sei. Praktizieren Sie die Gastfreundschaft gegenseitig und laden Sie zum Besuch in Ihrer Gemeinde ein.
Besonders geeignet sind gegenseitige Einladungen zu den religiösen Festen und Feiertagen der Religionen. Nirgendwo kommen sich Menschen verschiedener Religionen näher als bei ihren Festen.
Führen Sie die Gespräche und Diskussionen offen und halten Sie sich beweglich. Feindbilder politischer Parteien sind für die Kirche nicht verbindlich! 
Nehmen Sie  die eigenen Urteile, Voreinstellungen und Ängste und die Ihrer Gesprächspartner wahr und sprechen Sie sie an. Prüfen Sie sie nüchtern auf ihren Sachkern.
Nehmen Sie die unterschiedlichen Ausgangslagen (Asymmetrien) wahr und ernst, insbesondere die Situation von Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft
Laden Sie Gäste aus anderen Religionen als Referenten und Referentinnen an den Kirchensonntag ein, nach Möglichkeit aus Ihrer Gemeinde oder dem näheren Umkreis. Treffen Sie sich schon vorher und gestalten Sie die Vorbereitung in mehreren Schritten.
Führen Sie im Vorfeld oder danach Begleitveranstaltungen zum Kirchensonntag durch mit Informationen zum besseren Verständnis der Religionen.
Und wenn der Kirchensonntag zu einer geglückten Begegnung geworden ist: Bleiben Sie im Kontakt und planen Sie gemeinsam Schritte und Aktivitäten für ein friedliches Miteinander in der Gemeinde.

 

Albert Rieger