Vorwort des Synodalrats

   

 

Neugierde und Offenheit

 

Wenn mich in der dritten Klasse jemand danach gefragt hätte, ob ich einen Muslim, einen Hindu oder einen Buddhisten persönlich kenne, so hätte ich äusserst erstaunt dreingeblickt und gefragt, ob denn überhaupt Menschen dieser Religionen bei uns leben würden. Damals sass ich neben einer neuen Klassenkameradin, sie kam aus der Welschschweiz und war katholisch, das war für mich der erste bewusste Kontakt mit jemandem aus einer andern Konfession, denn in unserem grossen Dorf kannte ich nur Reformierte und dann noch die Leute vom Brüderverein. Ihre Kinder durften nicht auf die Schulreise mitkommen, und die Mädchen durften auch im strengsten Winter nicht mit Hosen zur Schule kommen. Bald darauf erzählte mir aber Professor Weissenberg, ein alter Freund der Familie, dass er zwar seit Jahren Weihnachten mit uns verbringe, jedoch nicht an Jesus Christus glaube. Seine heilige Schrift sei nur das Alte Testament unserer Bibel. So nahm ich zum ersten Mal wahr, dass es auch bei uns Menschen gab, die einer andern Religion angehörten.

 

Heutige Drittklässler haben meist einen ganz anderen Erfahrungshorizont. In ihren Schulklassen sitzen neben reformierten, katholischen und freikirchlichen Kindern  auch Muslime oder Hindus. In vielen Schulen erzählen die Kinder einander über ihren Glauben, sie lernen die wichtigsten Feiertage der andern kennen und wissen, wie sie gefeiert werden. Auch gibt es in fast jeder Klasse Kinder, die zu Hause in keiner religiösen Tradition erzogen werden.

 

Die Erfahrungen der heutigen Kinder sind manchmal verwirrender, als es meine waren, aber sie sind auch vielfältiger. Sie  spiegeln die heutige Realität wider: In unserem Lande leben Leute verschiedener Nationalitäten, verschiedener Hautfarbe, verschiedenen Glaubens und verschiedener Kulturen nebeneinander. Damit ein Leben in dieser Situation möglichst lebenswert ist, müssen wir es wohl alle den Drittklässern gleich tun und vom blossen Nebeneinander zum friedlichen und informierten Miteinander finden. Wir müssen die verschiedenen Religionen und die verschiedenen Kulturen, in denen sie gelebt werden, kennen lernen. Dass wir uns dabei auch neu mit unserer eigenen Identität beschäftigen müssen, ist nicht nur eine Mühe, sondern enthält die Chance, im Zusammenhang mit heutigen Herausforderungen unsern Glauben und unsere Kultur bewusst benennen zu können.

 

Es kann weder darum gehen, kritiklos alles Neue und Fremde anzunehmen, noch darum, es pauschal zu verwerfen. Vielmehr geht es darum, Angst und Unsicherheit zu überwinden. Es gibt sie auf beiden Seiten, und sie erschweren das Zusammenleben. Ein Dialog, der von Offenheit und auch von gegenseitigem Respekt geprägt ist, kann hier viel helfen. Er darf nicht nur von Spezialisten geführt werden, sondern gehört in den Alltag, nicht nur des schulischen Lebens, sondern auch der Kirche. Nur so kann er uns helfen, eine neue Kultur des alltäglichen Zusammenlebens zu finden. Klare eigene Positionen und das Festhalten an den Grund- und Menschenrechten sind dafür unabdingbar.

 

Die andern Religionen gehören heute zu unserer Gesellschaft, auch wenn wir uns daran noch nicht recht gewöhnt haben und uns an ihnen vielleicht manches befremdet. Wenn wir uns dem Gespräch und der Begegnung stellen, dann heisst dies auch, dass wir den Andersgläubigen das öffentliche Gespräch und die Begegnung zumuten.

 

Mit dem Kirchensonntag will der Synodalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn ein solches Gespräch im ganzen Kirchengebiet anstossen, beleben oder ganz einfach vertiefen, je nach dem, wo die einzelnen Kirchgemeinden heute stehen. Er hofft, dass wir dies mit jener Neugierde und Offenheit tun können, wie es unsere Kinder in ihrem Schulalltag tun und es unserer reformierten Tradition entspricht.

 

Pia Grossholz-Fahrni, Synodalrätin