Mit allen Sinnen Gott begegnen

   

 

Mit allen Sinnen Gott begegnen:

Was biblische Texte über unsere Sinne aussagen

 

Fünf Sinne haben wir Menschen. Die biblischen Geschichten und Bilder sehen uns durch diese fünf Sinne mit Gott verbunden. Durch diese Sinne können wir Gott erfahren, spüren, erkennen und loben. So heisst es in der biblischen Tradition. Durch diese Sinneserfahrungen können wir Gott feiern. In diesem Aufsatz werden die fünf Sinne jeweils kurz betrachtet. An jeweils ein oder zwei Texten aus dem Neuen und Alten Testament werden die Assoziationen, die Schreiberinnen und Schreiber zu biblischen Zeiten mit diesen Sinnen hatten und welche Verbindung sie durch diese Sinne mit Gott sahen, erläutert.

 

Die Nase: Den Lebensatem spüren und Gottes empfindliche Nase

Die Nase scheint auf den ersten Blick wohl das Sinnesorgan zu sein, das am wenigsten mit einer Beziehung zu Gott zu tun hat. Doch der Eindruck täuscht. In der biblischen Tradition spielt die Nase schon ganz zu Beginn bei der Schöpfung des Menschen eine wesentliche Rolle. Deshalb soll die Nase auch hier am Anfang stehen.

 

1. Buch Mose 2:7 - da bildete Gott, Jahwe, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und blies Lebensatem in seine Nase. So wurde der Mensch eine lebende Seele.

 

Dieser Vers steht im zweiten Kapitel des ersten Buches der Bibel. Im 1. Buch Mose werden zu Beginn zwei verschiedene Geschichten über die Schöpfung der Welt erzählt. Die Entstehung der ersten fünf Bücher Mose ist zurzeit in der Forschung sehr stark umstritten. Die Zeit der Verschriftlichung dieser Texte kann nicht genau angegeben werden. Es wird aber vermutet, dass der zweite Schöpfungsbericht im Gegensatz zum ersten eine längere mündliche Tradition hat. Während der erste Schöpfungsbericht (1. Buch Mose 1,1-2,4a) eher der Versuch einer nüchternen Erklärung ist, ist der zweite Schöpfungsbericht (1. Buch Mose 2,4b- 2,25) als blumige Geschichte gestaltet. Nach der ersten Erzählung schuf Gott durch das Wort. In der zweiten Geschichte wird der Mensch aus Staub vom Erdboden geformt. Aber der Mensch bleibt keine Figur aus Erde, sondern wird zu einem lebendigen Wesen, ja zu einer lebendigen Seele wie es im Text heisst, und zwar dadurch, dass Gott dem Menschen durch die Nase den Lebensatem einbläst. Auch von den Tieren wird erzählt, dass sie den Lebensatem haben, aber auf diese direkte Art, durch die Nase bekommt in der Erzählung nur der Mensch den Atem eingeblasen. Und solange der Mensch (wie auch das Tier) lebt, geht der Atem durch die Nase ein und aus. Dadurch wird der Mensch eine lebendige Näfäsch. So heisst das hebräische Wort für Seele. Aber Näfäsch heisst nicht einfach nur Seele, sondern steht auch als Symbol für den bedürftigen Menschen. Die Näfäsch als Symbol einer Kraft, die uns Menschen zu einem nach Leben lechzenden Wesen macht.

 

Das Bild, das in der Geschichte beschrieben wird, ist zärtlich. Gott wendet sich dem Menschen zu, berührt ihn, haucht ihn an, damit der Mensch lebendig wird. So ist die Beziehung von Gott und Mensch von Anfang an auf Beziehung, Begegnung und Berührung ausgelegt. Durch bewusstes Aus- und Einatmen können wir unserem Lebensatem einmal nachspüren und etwas von dieser nach Leben lechzenden Kraft spüren.

 

Die Atemkraft kommt aber auch in anderen Momenten zum Ausdruck. Wer wütend ist, bläst nicht selten kräftig durch die Nase. So heisst es im Hebräischen nicht: „Er entbrannte im Zorn“, sondern: „Seine Nase entbrannte“. Bildlich ist hier an eine wutschnaubende Nase gedacht. Eine so heftig atmende Nase sprüht vor Energie. Es ist ein Bild voller Lebensenergie. Nach biblischem Verständnis ist es nicht nur die menschliche Nase, die vor Zorn entbrennen kann, sondern auch die göttliche. Eine für uns eher fremde Vorstellung ist es, dass Gottes Nase durch den lieblichen Duft von Räucheropfern besänftigt werden kann. Die Vorstellung von der wutentbrannten Nase Gottes könnte aber insofern für uns hilfreich sein, wenn wir daran denken, dass Gott für alle Menschen, aber auch für die anderen Lebewesen möchte, dass der Lebensatem durch ihre Nase fliessen kann. Dafür hat Gott sie angehaucht. Wenn Menschen oder Tieren die Luft zum Atmen genommen wird, so kann das wohl auch bildlich Gottes Nase wutentbrannt schnauben lassen. Übersetzt heisst das Bild dann, dass es kaum Gottes Willen entsprechen kann, Menschen den Lebensatem durch Gewalt, Hunger, Unterdrückung, Umweltzerstörung oder anderes Elend zu nehmen. So wird die Nase zu einem Bild der Kraft, die sich für das Leben einsetzt.

 

Der Mund: Mit dem Mund Gott loben und Gott schmecken

Unter der Nase befindet sich in unserem Gesicht der Mund. Als Sinnesorgan geht es vor allem um das Schmecken, doch soll auch die Rolle für Sprechen und Gesang nicht unbeachtet bleiben.

 

Psalm 34:2 Ich will Gott loben allezeit; immer soll sein Lob in meinem Munde sein.

Psalm 34:9 Schmecket und sehet, wie freundlich Gott ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!

 

Der Psalm 34 erwähnt beide Fähigkeiten des Mundes, das Loben und das Schmecken. Und beides wird in einen Zusammenhang gebracht. Der Psalm wird in der Forschung als Loblied eines einzelnen Menschen eingeordnet. Über den Schreiber oder die Schreiberin ist nichts bekannt. Der Psalm kann in zwei Teile unterteilt werden. Der Anfang 34,1-11 ist ein Dankgebet und der zweite Teil 34,12-23 ein Lehrvortrag zum guten Leben.

 

1 Von David. Als er sich vor Abimelech wahnsinnig stellte und dieser ihn wegtrieb und er fortging. 2 Den HERRN will ich preisen allezeit, beständig soll sein Lob in meinem Munde sein. 3 In dem HERRN soll sich rühmen meine Seele; hören werden es die Sanftmütigen und sich freuen. 4 Erhebt den HERRN mit mir, laßt uns miteinander erhöhen seinen Namen! 5 Ich suchte den HERRN, und er antwortete mir; und aus allen meinen Ängsten rettete er mich. 6 Sie blickten auf ihn und strahlten, und ihr Angesicht wird nicht beschämt. 7 Dieser Elende rief, und der HERR hörte, und aus allen seinen Bedrängnissen rettete er ihn. 8 Der Engel des HERRN lagert sich um die her, die ihn fürchten, und er befreit sie. 9 Schmecket und sehet, daß der HERR gütig ist! Glücklich der Mann, der sich bei ihm birgt! 10 Fürchtet den HERRN, ihr seine Heiligen! Denn keinen Mangel haben die, die ihn fürchten. 11 Junglöwen darben und hungern, aber die den HERRN suchen, entbehren kein Gut. 12 Kommt, ihr Söhne, hört mir zu: die Furcht des HERRN will ich euch lehren. 13 Wer ist der Mann, der Lust zum Leben hat, der [seine] Tage liebt, um Gutes zu sehen? 14 Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor betrügerischer Rede; 15 laß ab vom Bösen und tue Gutes, suche Frieden und jage ihm nach! 16 Die Augen des HERRN [sind gerichtet] auf die Gerechten und seine Ohren auf ihr Schreien. 17 Denen, die Böses tun, [steht] das Angesicht des HERRN entgegen, um ihr Gedächtnis von der Erde zu tilgen. 18 Sie schreien, und der HERR hört, aus allen ihren Bedrängnissen rettet er sie. 19 Nahe ist der HERR denen, die zerbrochenen Herzens sind, und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er. 20 Vielfältig ist das Unglück des Gerechten, aber aus dem allen errettet ihn der HERR. 21 Er bewahrt alle seine Gebeine, nicht eines von ihnen wird zerbrochen. 22 Den Gottlosen wird die Bosheit töten; und die den Gerechten hassen, werden es büßen. 23 Der HERR erlöst die Seele seiner Knechte; und alle, die sich bei ihm bergen, müssen nicht büßen.

 

Der Sänger oder die Sängerin des Psalms hebt zum Lob Gottes an und lädt alle ein mit anzustimmen. Gott wird gelobt, für die Hilfe, die Gott Armen und Elenden und Unterdrückten zuteil werden lässt. Die Armen sind hier vielfältig zu verstehen, so geht es sowohl um die finanziell Armen, aber auch die „Armen“, die anderweitig ein schweres Los zu tragen haben. Alle werden eingeladen in das Lob einzustimmen, den Mund zum Sprechen zu öffnen. Nach biblischem Verständnis entsteht durch ein von Gott gesprochenes Wort eine ganz neue Wirklichkeit. Aber auch wir Menschen sind aufgefordert in eigener Sache zu reden, und nicht unmündig zu sein. So sagte der brasilianische Pädagoge Paolo Freire: „Ein wirkliches Wort sagen, heisst die Welt zu verändern.“ Den Mund gebrauchen, die Stimme erheben, das hat kreatives, wirklichkeitsveränderndes Potential, wenn wir uns nur trauen.

 

Der Psalmbeter, die Psalmbeterin, scheint zu wissen, dass Gott loben manchmal nicht ganz einfach ist, vielleicht hat er oder sie selbst Gott auch schon als fern oder unzugänglich erfahren. Deshalb folgt als zweites die Einladung, zu schmecken, wie freundlich Gott ist, zu schmecken, dass Gott es wirklich gut meint. Durch die eigenen Sinne sollen die Menschen erfahren, dass Gott freundlich ist, sie sollen ihre Erfahrung mit Gott machen. Die Psalmbetenden waren von dieser Erfahrung überzeugt. Deshalb können sie Gott loben. Sie erfuhren, dass Gott den Menschen Gutes will. Sie haben es geschmeckt. Und wohl nur deshalb kann sich als zweites der Lehrteil an das Lob anschliessen. Nachdem die Psalmbetenden Gottes Güte geschmeckt haben, ist es umso leichter sich für das Gute einzusetzen – dem Frieden nachjagen. Das ist die Aufforderung im zweiten Teil des Psalms (Ps 34,15). Der Frieden, hebräisch Schalom, steht hier für ein ganz umfassendes Bild einer gerechten und lebenswerten Welt für alle Lebewesen. Meines Erachtens zeigt sich hier die grundlegende biblische Verheissung: Gottes Güte dürfen und können wir erfahren, schmecken. So werden wir stark, um an Gottes Schöpfung und an Gottes Schalom (Frieden) mitzubauen.

 

Der Versteil: „Schmecket und sehet, wie freundlich Gott ist.“ ist auch heute in vielen Gemeinden zu hören, denn viele Pfarrerinnen und Pfarrer laden in leicht veränderter Form, mit diesen Worten zum Abendmahlstisch ein. Ganz direkt ist hier die Verbindung von den Gedanken des Psalms zum Abendmahlsgeschehen – das Abendmahl soll ein Moment werden, in dem die Freundlichkeit Gottes geschmeckt werden kann. Ein neutestamentlicher Text aus dem ersten Brief an die Korinther, den Paulus vermutlich im Jahr 55 n. Chr. in Ephesus geschrieben hat, gibt uns einen vertieften Einblick in das Abendmahlsverständnis der ersten christlichen Gemeinden und zeigt, dass wie in Psalm 34 nicht allein das Schmecken eine Rolle spielt, sondern auch, wie im Psalm, Fragen der Gerechtigkeit und des Schaloms (Frieden) zum Abendmahl gehören.

 

1. Korinther 11, 17-34

17 Wenn ich aber folgendes vorschreibe, so lobe ich nicht, daß ihr nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren zusammenkommt. 18 Denn erstens höre ich, daß, wenn ihr in der Gemeinde zusammenkommt, Spaltungen unter euch sind, und zum Teil glaube ich es. 19 Denn es müssen auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten unter euch offenbar werden. 20  Wenn ihr nun zusammenkommt, so ist es nicht [möglich], das Herrenmahl zu essen. 21 Denn jeder nimmt beim Essen sein eigenes Mahl vorweg, und der eine ist hungrig, der andere ist betrunken. 22 Habt ihr denn nicht Häuser, um zu essen und zu trinken? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und beschämt die, welche nichts haben? Was soll ich euch sagen? Soll ich euch loben? Hierin lobe ich nicht. 23 Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, in der er überliefert wurde, Brot nahm, 24 und als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zu meinem Gedächtnis. 25 Ebenso auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr trinkt, zu meinem Gedächtnis. 26 Denn sooft ihr dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt. 27 Wer also unwürdig das Brot ißt oder den Kelch des Herrn trinkt, wird des Leibes und Blutes des Herrn schuldig sein. 28 Der Mensch aber prüfe sich selbst, und so esse er von dem Brot und trinke von dem Kelch. 29 Denn wer ißt und trinkt, ißt und trinkt sich selbst Gericht, wenn er den Leib [des Herrn] nicht [richtig] beurteilt. 30 Deshalb sind viele unter euch schwach und krank, und ein gut Teil sind entschlafen. 31 Wenn wir uns aber selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. 32 Wenn wir aber vom Herrn gerichtet werden, so werden wir gezüchtigt, damit wir nicht mit der Welt verurteilt werden. 33 Daher, meine Brüder, wenn ihr zusammenkommt, um zu essen, so wartet aufeinander. 34 Wenn jemand hungert, der esse daheim, damit ihr nicht zum Gericht zusammenkommt. Das übrige aber will ich anordnen, sobald ich komme.

 

In diesem Abschnitt seines Briefes geht Paulus auf die Zustände beim Abendmahl in der korinthischen Gemeinde ein. Für Paulus sind es ganz klar gemeinschaftsschädigende Missstände, die korrigiert werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass in der korinthischen Gemeinde das Abendmahl aus zwei Teilen, einem Sättigungsmahl und dem eigentlichen Abendmahl, das Paulus Herrenmahl nennt, bestand. Die Gemeinde traf sich bevorzugt sonntags zu diesen Mählern. Der Sonntag war kein arbeitsfreier Tag. Weder Juden noch Römer kannten den Sonntag als Feiertag. Vor allem die armen Gemeindeglieder von Korinth mussten arbeiten, während die Reicheren sich viel früher zum Essen treffen konnten. So kam es, dass vom Essen kaum noch etwas übrig war, wenn die restlichen Gemeindeglieder hungrig in die Gemeinde kamen. Es scheint, die soziale Realität war in Vergessenheit geraten. Doch die Reichen Mitglieder der Gemeinde haben sich wohl auf das geistige Geschehen berufen, denn ihrer Meinung nach konnten die Gemeindeglieder ja immerhin alle an Abendmahl, dem zweiten Teil des Mahls, teilnehmen und so an Christi Verheissung teilhaben. Doch Paulus warnt mit sehr polemischen Worten: Wenn die soziale Realität nicht bedacht wird und es so ungerecht zugeht, dann kann dass Ganze gar nicht als Abendmahl bezeichnet werden. Deshalb schreibt Paulus die Überlieferung der Abendmahlsworte auf, um noch einmal zu betonen, dass es beim Abendmahl um eine Selbstmitteilung Jesu Christi geht, die Gültigkeit für alle hat und die Gemeinschaft stiften soll. Wenn aber während des Abendmahls einer hungern muss und ein anderer betrunken ist, dann ist diese Gemeinschaft verunmöglicht, meint Paulus. Dann ist die Gemeinde gespalten. Hier wird deutlich, dass das Abendmahl auch im Horizont einer zukunftweisenden Hoffnung gefeiert werden soll. Das Abendmahl ist eine radikale Kritik an ungerechten Verhältnissen: einige müssen hungern und andere sind betrunken vor Überfluss. Für Paulus ist das nicht tragbar. Im Abendmahl soll etwas von der Hoffnung auf das Reich Gottes spürbar und schmeckbar werden, dass dieser Planet in einen Ort verwandelt wird, der Gott wohlgefällt. Zwar beginnt das Abendmahl mit dem Hören der Abendmahlsworte, die einen neuen Bund zwischen Gott und Menschen durch Jesus Christus verheissen, doch diese Verheissung und das Mysterium Christi, sollen die Abendmahlsteilnehmenden mit allen Sinnen erleben und vor allem diese Hoffnung auch schmecken. Die Mahlgemeinschaften Jesu lassen schmecken, wie es sein könnte, wenn Gott kommt. So geht das Hören über in Schmecken. Wenn wir gemeinsam in unseren Gemeinden Abendmahl feiern, so feiern wir die Nähe Gottes und können sinnlich erfahren, wie das wahre Leben, das Gott möchte, schmecken könnte.

 

Die Ohren: Gott hören und Gott hört uns

Nun ist das Hören gerade schon erwähnt worden, deshalb soll es mit den Ohren weitergehen. In der reformierten Tradition ist das Hören der am meisten betonte Sinn. Lange wurde allein auf das Hören des Wortes gesetzt. Erst langsam finden alle anderen Sinne in die gottesdienstliche Feier zurück. Es ist aber auch nachvollziehbar, warum ein Schwerpunkt auf dem Hören liegt, denn es hat eine lange biblische Tradition.

 

In unserer heutigen, sehr lauten Welt wollen das Zuhören und das Hinhören gelernt sein. Oft suchen wir uns auch Plätze, an denen wir die Ruhe finden, um in uns hineinhören zu können. Im Alten Israel galten jene Menschen als weise, deren Ohren offen waren und die so Lebenserfahrung gesammelt hatten. König Salomo wünscht sich der Erzählung nach ein hörendes Herz. Und das „Höre Israel!“ gilt als Grundbekenntnis des Volkes Israel. Es institutionalisiert das Lehren, Lernen und Hören auf Gottes Stimme, aber es legt auch das Hören als Grundlage der Liebesbeziehung, des Bundes, zwischen Gott und seinem Volk fest. Erst durch wirkliches Gehörtwerden kann Beziehung entstehen. Hierbei wird uns das Folgende zu bedenken gegeben, wenn die Beziehung Gott – Mensch als Vorbild gilt: Welche Rolle spielt das Hören in menschlichen Beziehungen? Einander zuhören  - das ist nicht immer einfach – aber daraus kann Verständnis erwachsen.

 

Aus der Psalmtradition kennen wir die Aussagen, dass Gottes Ohren für Unterdrückte und Benachteiligte offen sind, aber auch für alle die Gott anrufen. So heisst es in der Bergpredigt (Mt 7,7). Der Unterschied zwischen Gott und Götzen ist, dass Götzen zwar auch Ohren haben, aber nicht hören. (Eindrücklich wird es in der Geschichte des Wettkampfes zwischen dem Propheten Elia und den Baalsphropheten geschildert. Die letzteren rufen und rufen, und ihr Gott Baal hört sie nicht. 1. Kön 18,17ff.)

 

Aus dem Neuen Testament sind die immer wiederkehrenden Aufrufe Jesu bekannt: Wer Ohren hat, der höre (z.B. Mt 11,15; 13,9; 13,43; Mk 4,9; Lk 8,8; 14,35). Jesus scheint bewusst gewesen zu sein, dass gut funktionierende Ohren eines Menschen noch keine Garantie für wirkliches (Zu-)hören sind. Wenn in den Heilungsgeschichten taube Menschen von Jesus geheilt werden, z.B. in Mk 7, 32ff., dann muss es nicht sein, dass die Metapher eines tauben Menschen heisst, es gehe tatsächlich um das Nicht-Funktionieren der Ohren. Hauptsächlich beschreibt das Bild einen von der Kommunikation ausgeschlossenen Menschen. Jesus aber berührt diesen Menschen in der Markusgeschichte nicht nur durch Zuwendung mit Worten, sondern auch durch tatsächliches Berühren der Ohren, und so können sich die Ohren bzw. die Menschen öffnen und zu mündigen Menschen der Gemeinschaft werden, denn sie können (wieder) an der Gemeinschaft teilnehmen. Auffällig ist in der Heilungsgeschichte Mk 7, dass Jesus auch direkt sagt: „Hephata“ – „Werde geöffnet“. Es geht um offene Ohren, die das, was sie hören aufnehmen und umsetzen können. Denn eine wichtige Achse die im Neuen Testament immer wieder erwähnt und betont wird, ist der Zusammenhang von Hören und Tun.

 

Den Menschen werden von Jesus die Ohren geöffnet, damit sie die Botschaft des Reiches Gottes hören, aber auch danach handeln. So versucht Jesus den Menschen nicht vorrangig die Ohren für die Botschaft des Reiches Gottes durch Heilungen, sondern vor allem durch das Erzählen von Gleichnissen zu öffnen. Nach Lukas 8,21 werden die wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu dadurch definiert, dass sie Gottes Wort hören und danach handeln. (Lukas 8,21: Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind die, welche das Wort Gottes hören und tun.)

 

Das rechte Hören erweist sich im Tun. Das wurde auch in den ersten christlichen Gemeinden betont. Im Brief des Jakobus, eines uns unbekannten, gut gebildeten Urchristen, der sich selbst als urchristlicher Lehrer bezeichnet, finden sich deutliche Worte zu diesem Thema. Der Brief wurde vermutlich am Ende des 1. Jh. n. Chr. verfasst.

 

Jakobus 1,19-27

19 Ihr wißt [doch], meine geliebten Brüder: Jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. 20 Denn eines Mannes Zorn wirkt nicht Gottes Gerechtigkeit. 21 Deshalb legt ab alle Unsauberkeit und all die viele Schlechtigkeit, und nehmt das eingepflanzte Wort mit Sanftmut auf, das eure Seelen zu erretten vermag. 22 Seid aber Täter des Wortes und nicht allein Hörer, die sich selbst betrügen. 23 Denn wenn jemand ein Hörer des Wortes ist und nicht ein Täter, der gleicht einem Mann, der sein natürliches Angesicht in einem Spiegel betrachtet. 24 Denn er hat sich selbst betrachtet und ist weggegangen, und er hat sogleich vergessen, wie er beschaffen war. 25 Wer aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit hineingeschaut und dabei geblieben ist, indem er nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes ist, der wird in seinem Tun glückselig sein. 26 Wenn jemand meint, er diene Gott, und zügelt nicht seine Zunge, sondern betrügt sein Herz, dessen Gottesdienst ist vergeblich. 27 Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott und dem Vater ist dieser: Waisen und Witwen in ihrer Drangsal zu besuchen, sich selbst von der Welt unbefleckt zu erhalten.

 

Für Jakobus ist klar, dass „Nur-Hörer“ Selbstbetrüger sind. Menschen, die Hören und Tun voneinander trennen, vergessen seiner Meinung nach ihre Begabung und Verantwortung. Das Hören von Gottes Wort führt in die Freiheit, wenn Handeln damit verbunden ist. Wahrer Gottesdienst ist nach Jakobus mit sozialer Praxis verbunden, was Jakobus mit der Hilfe für Witwen und Waisen beschreibt. Es geht also um sozialen Dienst an benachteiligten Menschen, denn Witwen und Waisen waren zur damaligen Zeit ohne jeglichen Schutz und Verdienst sich selbst überlassen. (Wobei Jakobus lange, missverständlicherweise, so interpretiert wurde, dass durch die soziale Praxis Heil erworben wird. Aber auch bei Jakobus kommt, wie bei Paulus, zuerst Gott durch sein befreiendes Handeln, welches ein Mensch sich nicht durch Taten erwerben kann, auf die Menschen zu. Doch die von Gott geschenkte Freiheit muss nach Jakobus zum sozialen Handeln führen, sonst ist der Glaube für ihn nicht vollständig.) Doch Jakobus bringt noch einen zweiten Gedanken ein. Hören ist eine Kunst, denn erst muss es zum wirklichen Verstehen führen und im zweiten Schritt kommt das Handeln. So warnt er nicht nur davor, das Handeln zu vergessen, sondern auch davor, in einer Kurzschlusshandlung auf das Hören gleich das Handeln folgen zu lassen, ohne zu wissen, was man eigentlich tut. Es geht nicht darum, gleich schnell loszureden, sondern Jakobus mahnt „Sanftmut“ an. Mit diesem Wort weist er auf den Prozess des Verstehens des Wortes hin. Hören und gleich Handeln ohne einen Erkenntnisprozess kann nach Jakobus auch zu folgenreichen Fehlern führen.

 

So wird an das Hören sehr hohe Ansprüche gestellt werden; und es ist nach biblischer Tradition auch immer mit einem Prozess des Verstehens, was man gehört hat, und einem Übergehen ins Handeln verbunden.

 

Die Augen: Gott schauen und Gott schaut uns

 

In der Reformationszeit wurde durch den Bildersturm das entfernt, was es in den Kirchen zu sehen gab. Die Konzentration lag auf den Ohren, das Sehen konnte nur vom Hören ablenken. Erst in den letzten Jahrzehnten haben Kerzen, Bilder u.a. wieder zurück in die reformierten Kirchen gefunden. Nach biblischer Tradition ist allerdings das Sehen gleichwertig wie das Hören. Es kann sogar von einer Augen- und Ohrentheologie (Silvia Schroer) geredet werden. Letztlich wird im Alten Testament das „Sehen“ viel häufiger erwähnt als das Hören. Das Sehen ist tatsächlich die am häufigsten erwähnte Sinneswahrnehmung. Wenn es um das Sehen in den biblischen Texten geht, werden zwei Aspekte angesprochen. Einerseits das Sehen Gottes auf die Menschen mit freundlichem Angesicht. Andererseits das Sehen und Erkennen der Menschen.

 

Die Augen der Menschen haben in der Bibel mit Glauben zu tun. Wer hört und sieht, erkennt und versteht. In den Evangelien wird nicht grundlos von sehr vielen Blindenheilungen berichtet. Die Menschen, die sehen, werden als Glaubende bezeichnet. Gemeint ist, sie sehen Jesus als Messias, also, sie glauben an ihn. Allerdings gilt wie bei den Ohren, dass auch gut funktionierende Augen blind sein können. Besonders deutlich wird das in der berührenden Geschichte in Johannes 9, 1-41.

 

Johannes 9, 1-41

1 Und als er vorüberging, sah er einen Menschen, blind von Geburt. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sagten: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? 3 Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt, noch seine Eltern, sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart würden. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er dies gesagt hatte, spie er auf die Erde und bereitete einen Teig aus dem Speichel und strich den Teig auf seine Augen; 7 und er sprach zu ihm: Geh hin, wasche dich in dem Teich Siloah - was übersetzt wird: Gesandter. Da ging er hin und wusch sich und kam sehend. 8 Die Nachbarn nun, und die ihn früher gesehen hatten, daß er ein Bettler war, sprachen: Ist dieser nicht der, der da saß und bettelte? 9 Einige sagten: Er ist es; andere sagten: Nein, sondern er ist ihm ähnlich; er sagte: Ich bin}s. 10 Sie sprachen nun zu ihm: Wie sind deine Augen aufgetan worden? 11 Er antwortete: Der Mensch, der Jesus heißt, bereitete einen Teig und salbte meine Augen [damit] und sprach zu mir: Geh hin nach Siloah und wasche dich. Als ich aber hinging und mich wusch, wurde ich sehend. 12 Da sprachen sie zu ihm: Wo ist jener? Er sagt: Ich weiß es nicht. 13 Sie führen ihn, den einst Blinden, zu den Pharisäern. 14 Es war aber Sabbat, als Jesus den Teig bereitete und seine Augen auftat. 15 Nun fragten ihn wieder auch die Pharisäer, wie er sehend geworden sei. Er aber sprach zu ihnen: Er legte Teig auf meine Augen, und ich wusch mich, und ich sehe. 16 Da sprachen einige von den Pharisäern: Dieser Mensch ist nicht von Gott, denn er hält den Sabbat nicht. Andere sagten: Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Und es war Zwiespalt unter ihnen. 17 Sie sagen nun wieder zu dem Blinden: Was sagst du von ihm, weil er deine Augen aufgetan hat? Er aber sprach: Er ist ein Prophet. 18 Es glaubten nun die Juden nicht von ihm, daß er blind war und sehend geworden, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war. 19 Und sie fragten sie und sprachen: Ist dieser euer Sohn, von dem ihr sagt, daß er blind geboren wurde? Wie sieht er denn jetzt? 20 Seine Eltern antworteten und sprachen: Wir wissen, daß dieser unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde; 21 wie er aber jetzt sieht, wissen wir nicht, oder wer seine Augen aufgetan hat, wissen wir nicht. Er ist mündig. Fragt ihn, er wird selbst über sich reden. 22 Dies sagten seine Eltern, weil sie die Juden fürchteten; denn die Juden waren schon übereingekommen, daß, wenn jemand ihn als Christus bekennen würde, er aus der Synagoge ausgeschlossen werden sollte. 23 Deswegen sagten seine Eltern: Er ist mündig, fragt ihn. 24 Sie riefen nun zum zweiten Mal den Menschen, der blind war, und sprachen zu ihm: Gib Gott die Ehre! Wir wissen, daß dieser Mensch ein Sünder ist. 25 Da antwortete er: Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht; eins weiß ich, daß ich blind war und jetzt sehe. 26 Und sie sprachen wieder zu ihm: Was hat er dir getan? Wie tat er deine Augen auf? 27 Er antwortete ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt nicht gehört. Warum wollt ihr es nochmals hören? Wollt ihr etwa auch seine Jünger werden? 28 Sie schmähten ihn und sprachen: Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger. 29 Wir wissen, daß Gott zu Mose geredet hat; von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist. 30 Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: Hierbei ist es doch erstaunlich, daß ihr nicht wißt, woher er ist, und er hat [doch] meine Augen aufgetan. 31 Wir wissen, daß Gott Sünder nicht hört, sondern wenn jemand gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den hört er. 32 Von Anbeginn hat man nicht gehört, daß jemand die Augen eines Blindgeborenen aufgetan habe. 33 Wenn dieser nicht von Gott wäre, so könnte er nichts tun. 34 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Du bist ganz in Sünden geboren, und du lehrst uns? Und sie warfen ihn hinaus. 35 Jesus hörte, daß sie ihn hinausgeworfen hatten; und als er ihn fand, sprach er zu ihm: Glaubst du an den Sohn des Menschen? 36 Er antwortete und sprach: Und wer ist es, Herr, daß ich an ihn glaube? 37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist es. 38 Er aber sprach: Ich glaube, Herr. Und er warf sich vor ihm nieder. 39 Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. 40 Einige von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? 41 Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. [Daher] bleibt eure Sünde.

 

Hier geht es um einen von Geburt an blinden Menschen. Es ist das einzige Mal, dass von einem solchen Fall berichtet wird und steht für ein besonders schweres menschliches Leid. Die Jünger Jesu suchen einen Zusammenhang von Leid und Schuld. Das wird von Jesus klar abgelehnt. Die Krankheit des Menschen ist keine Sünde und auch nicht der Eltern. Für Jesus ist das eine völlig falsche Frage. Jesus verbindet die Heilung mit einer Selbstaussage. Er ist das Licht der Welt. Dieses Licht als Symbol für die Sehnsucht nach einem besseren Leben, möchte Jesus die Menschen sehen lassen. Dafür wendet er sich den Menschen zu, wie diesem Blinden, den er berührt und heilt. Auch eine psychologische Deutung des Textes ist möglich: Jesus hilft dem blinden Menschen, durch die Aufforderung seine Augen zu waschen, das abzuwaschen, was seine Augen durch die Jahre verschlossen hat. Im weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, dass die Geschichte solche Menschen als blind zeigt, die zwar sehen können, aber dem Geschehen keinen Sinn abgewinnen können. So endet das Kapitel bei Johannes mit der Feststellung, dass diese Menschen, stereotypisiert werden sie als Pharisäer, zwar sehen, aber eben das eigentliche doch nicht sehen, wogegen der einst Blinde seinen Glauben an Jesus bekennt.

 

Doch nicht nur Menschen sehen, sondern in der biblischen Tradition ist auch Gott ein sehender Gott. Dieses Sehen kann angerufen werden. Der alte aaronitische Segen spricht genau das aus, dass Gottes Angesicht und damit Gottes Augen sich dem Menschen gütig und freundlich zuwenden. (Erst eine unterdrückerische Pädagogik missbrauchte das „Auge Gottes“ als strenge Kontrollinstanz, die die Freundlichkeit des göttlichen Angesichts in Vergessenheit geraten liess.)

 

Num 6,24-26

Der HERR segne dich und behüte dich;

Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;

Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

 

Dieser Segen aus dem Buch Numeri wird am Ende von Synagogengottesdiensten gesprochen, aber auch in reformierten Gemeinden ist er oft am Ende des Gottesdienstes als Segen zu hören. Schon im Alten Israel hatte er sehr grosse Bedeutung. Das hat sich dadurch gezeigt, dass bei archäologischen Grabungen zwei Silberrollen gefunden wurden, auf denen dieser Segenstext eingraviert war. Es sind die ältesten Fragmente eines biblischen Textes überhaupt, noch um einiges älter als die Qumranrollen.

Der kurze Text ist in einem sehr poetischen Hebräisch verfasst. In der Übersetzung ist nicht mehr zu sehen, dass der Text im Original in der ersten Zeile 3, in der zweiten 5 und in der letzen Zeile 7 Wörter hat. Dieser Aufbau der Zeilen spiegelt die hinausgehende Bewegung und den Fluss von Gottes Segen wider. Der Segen erbittet Gottes zugewandtes Gesicht und damit Augen, die wohlwollend auf den Menschen herabsehen: mit Wärme, wie die Sonne, die Erlösung von Kälte bringt, Augen die lebensbringend und freudenvoll leuchten. Dieses leuchtende Gesicht steht für die Akzeptanz aller Menschen, auch wenn ein Mensch schuldig geworden ist. Gleichzeitig soll es für uns Menschen auch eine Erinnerung sein: Wenn Gott uns mit wohlwollenden Augen ansieht, wie schauen wir dann unseren Mitmenschen in die Augen? Wie gehen wir mit jemandem um, der an uns schuldig geworden ist? Oder an dem wir schuldig geworden sind? Können wir uns selbst in die Augen und ins Angesicht schauen?

 

Diese Fragen dürfen gestellt werden, ohne moralisierend eine bestimmte Antwort zu erwarten. Der Segen vermittelt, dass Gott mit freundlichem Gesicht auf uns schaut; und vielleicht kann es uns dann leichter werden, andere freundlich anzuschauen, wenn wir wissen, dass Gott uns freundlich ansieht.

 

Nicht umsonst hat dieser aaronitische Segen im alttestamentlichen Kanon seinen Platz im Buch Numeri, in dem sich, der Erzählung nach, das Volk Israel auf seinem Wüstenzug befindet. Keine einfache Reise, da braucht es den Segen und dieser Segen soll immer neu vermittelt werden, denn Segen können alle immer gebrauchen in „Wüstenzeiten“, auf „Durststrecken“, aber auch wenn es einfach „Sonnenzeit“ ist.  Heute gibt es viele reformierte Gemeinden, die mit Segnungs- und Salbungsgottesdiensten vertraut sind. Hier kommt zum Segen und dem Wunsch, dass Gott uns mit freundlichen Augen ansehen möge noch das Spüren des Segens hinzu. Das wohlriechende Salböl macht den Segenswunsch spürbar, vielleicht sogar soweit spürbar, dass wir fühlen können, wie Gott uns mit freundlichen Augen anschaut.

 

Das Gefühl: Gott spüren

 

Die letzten Sätze zu den Augen waren schon eng verbunden mit dem Fühlen oder Spüren Gottes. Der fünfte Sinn von uns Menschen ist der Tastsinn, aber an dieser Stelle soll nicht nur an die Fähigkeit der menschlichen Hände etwas zu ertasten, gedacht werden, sondern ganzheitlicher an ein Spüren und Erfühlen, das durch den gesamten Körper geht. Auffallend ist, dass auch bei anderen Sinnen oft eine Berührung hinzukommt. Wenn Jesus Menschen heilt, berührt er sie, wenn Gott dem Menschen Atem in die Nase bläst, ist es auch eine Berührung. Die Berührung scheint grundlegend zum Beziehungsgeschehen dazuzugehören. In dem Sinne ist auch die Salbung schon angeklungen, die durch das Salbungsöl den Segen Gottes spürbar machen soll. Auch von Jesus wird erzählt, dass er gesalbt wurde.

 

Mk 14, 3-9 Die Salbung in Bethanien

 

3 Und als er in Bethanien war, in dem Hause Simons des Aussätzigen, kam, während er zu Tisch lag, eine Frau, die ein Alabasterfläschchen mit Salböl von echter, kostbarer Narde hatte; sie zerbrach das Fläschchen und goß es aus auf sein Haupt. 4 Es waren aber einige bei sich selbst unwillig: Wozu ist diese Verschwendung des Salböls geschehen? 5 Denn dieses Salböl hätte für mehr als dreihundert Denare verkauft und den Armen gegeben werden können. Und sie fuhren sie an. 6 Jesus aber sprach: Laßt sie! Was macht ihr ihr Mühe? Sie hat ein gutes Werk an mir getan; 7 denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen wohltun; mich aber habt ihr nicht allezeit. 8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat im voraus meinen Leib zum Begräbnis gesalbt. 9 Aber wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem, was sie getan hat, geredet werden zu ihrem Gedächtnis.

 

In dieser Geschichte salbt eine uns namentlich unbekannte Frau Jesus. Sie bleibt anonym, es wird aber die Wohltäterschaft der Frau durch die starke Betonung, dass das Salböl sehr teuer gewesen sei, hervorgehoben.

 

Die Tat wird als schockierend dargestellt, denn die Frau tritt in eine Männergesellschaft ein, was für damalige Gesellschaftsverhältnisse sehr ungewöhnlich war. Sie nimmt teures Öl, salbt Jesus den Kopf (bei Markus und Matthäus ist es der Kopf, in den anderen zwei Evangelien die Füsse), fasst Jesus an. Es war in Israel üblich, einem geschätzten Gast vor dem Mahl die Füsse mit Öl zu salben. Da die Frau erst eintritt, als die Mahlzeit schon im Gange ist und sie den Kopf Jesu salbt, sollen hier andere Assoziationen geweckt werden.

 

In der jüdischen Geschichte wurden die Köpfe von Königen (2. Könige 9,3-6) und Priestern (Ex 29,4-7) gesalbt. Der Messias ist übersetzt „der Gesalbte“. Jesus selbst deutet die Salbung im Zusammenhang mit seinem bevorstehenden Tod. Durch ihre berührende Tat nimmt die Frau Anteilnahme am Schicksal Jesu. Die Jünger fangen an zu murren, da sie kein Verständnis für die Tat der Frau haben. Besonders beschuldigen sie die Frau, das teure Öl verschwendet zu haben, es hätte doch damit Geld für die Armen gesammelt werden können. Ob die Jünger hier ernsthafte Entrüstung zeigen und tatsächlich die Verschwendung empfinden oder ob sie vor allem die Frau in die Enge treiben wollen, ist dem Text nicht zu entnehmen. Jesus nimmt die Frau ganz klar in Schutz. Es gibt beides, sozialen Dienst für die Armen und gute Werke und beides ist gut. Nach Jesu Worten hat diese Frau eindeutig eine gute Tat getan. Sie wird im Gegensatz zu Judas als eine Frau beschrieben, die das, was sie hat, für Jesus verschwendet, wogegen Judas Jesus für Geld verrät.

 

In dieser Geschichte geschieht sehr viel Berührung. Diese Frau hat Jesus berührt und Jesus ist von der Hingabe der Frau wohl auch innerlich berührt worden. Die Berührung seines Kopfes  durch ihre Hände und mit Öl in einem Moment, in dem er seinen Tod schon fürchten muss, zeigt tiefe menschliche Zuwendung der Frau zu Jesus. Darüber hinausgehend wird sie als Prophetin dargestellt. Ihre Handlung hat verkündenden Charakter, sie salbt Jesus als den zukünftig leidenden Messias, verkündet so seine Botschaft und  gibt ein prophetisches Zeichen, dass symbolisch ein zukünftiges Handeln Gottes vorwegnimmt. Auch wenn es nicht erzählt wird, vielleicht hat Jesus die Frau und ihre Tat nicht nur in Schutz genommen, weil sie ihn zeichenhaft als Messias verkündet hat, sondern weil er vielleicht auch ihre Zuwendung genossen hat.

 

Diese berührende und prophetische Tat einer unbekannten Frau soll nach Jesu Worten nie vergessen werden und immer mitverkündet werden, wenn von der Botschaft Jesu die Rede ist. So ist es ein tragischer Zug der Geschichte, dass den meisten Christinnen und Christen die Tat Judas’, sein Verrat, viel bekannter ist, als das gute Werk dieser namenlosen Frau, die Jesus salbte.

 

Die Salbungsgeschichte erzählt, wie Menschen durch ihre Taten berühren können und so etwas von Gottes Liebe sichtbar machen. Die biblische Tradition kennt auch Geschichten, in den Gott Menschen berührt oder anrührt, so dass Menschen Gott spüren und zu neuem Leben erweckt werden. Eine dieser Geschichten soll hier zum Abschluss kurz betrachtet werden.

 

1. Könige 19,11-12 Elia am Horeb (Ausschnitt aus der längeren Eliageschichte)

 

1 Könige 19:11 Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.

1 Könige 19:12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.

 

Diese zwei Verse sind ein Ausschnitt aus der Legende vom Propheten Elia, die im 1. Buch der Könige 17-19 zu lesen ist. Nach der Legende kommt Elia in einer Phase schwerer Depression zum Horeb. Nach Auseinandersetzungen mit dem König und seiner Frau und deren Baalspropheten, hatte er in Todesangst die Flucht ergriffen und sich in die Wüste begeben. Dort unter einem verdorrten Strauch wollte er sterben, doch Engel Gottes hatten ihn weiter zum Horeb geführt. Dort ist Elia nun in einer Höhle, wo er Gott begegnen soll. In den Versen 11 und 12 ist die Gottesbegegnung beschrieben.

 

Es ist ein sehr eindrückliches Bild: ein Todesängste leidender Mensch, der nicht mehr weiter kann, sitzt in einer dunklen Höhle, fern von allen Menschen und es brechen Naturgewalten los. Es ist die typische Sprache für Gottesbegegnungen, sogenannten Theophanien: Feuer, Erdbeben, Sturm. Oft werden diese Naturgewalten in den alttestamentlichen Geschichten mit Gott assoziiert. Doch Gott selbst ist nicht in diesen Erscheinungen. Elia scheint durch diese elementaren Gewalten nur weiter verängstigt und bewegt sich nicht aus der Sicherheit der Höhle hinaus. In seiner schweren Lage können diese lauten Vorgänge, die Gott vorausschickte, Elia nicht aus seiner Depression holen, sie schüchtern ihn nur weiter ein. Aber oft wird eben vergessen, dass Gott auch im Kleinen vorbeikommt, in einem kleinen Lufthauch, den man sanft auf seiner Haut spürt. Erst diese zarte Bewegung gibt Elia die Kraft und den Mut die Höhle zu verlassen. Dieser kleine Lufthauch ist Gottes Ruf in die menschliche Verzweiflung. Er erinnert daran, dass Gott das Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen nicht aufgibt, auch wenn der Mensch selbst gerade nicht an sich glauben kann, so wie es Elia ging. Dieser zarte Lufthauch ist Gottes Heilung für die Depression des Elia. Ebenso beruft Gott den Propheten zu neuen Aufgaben und in eine verheissungsvolle Zukunft. So wurde Elia von Gott berührt und konnte aus seiner dunklen Höhle wieder ins Leben zurückkehren.

 

Nach diesem Durchgang durch die einzelnen Sinne ist zu beobachten, dass es meistens ein Zusammenspiel mehrerer Sinne gibt. Es geht um Berühren und Hören, Sehen und Fühlen, Schmecken und Spüren. Die sinnlichen Erfahrungen führen weiter zum Verstehen, Erkennen und Handeln. So ergibt sich aus dem biblischen Verständnis der Sinne ein umfassendes Bild: Mit allen Sinnen können Menschen Gott begegnen. So sind wir auch eingeladen, Gott mit allen unseren Sinnen zu feiern, dadurch Gottes Nähe zu erfahren und vielleicht auch etwas von der Verheissung einer Zukunft des Schalom zu spüren.

 

Nadja Boeck

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