Durch aller Sinnen Thüren

   

«Durch aller Sinnen Thüren».

Über essbare Zeichen, religiöse Nahrungsmetaphern und gottesdienstliche Mahlfeiern

 

Die sinnliche Dimension des Feierns

Wir feiern Gott. Vor ihm und mit ihm feiern wir, wir feiern zu seinem Lob, aus Freude und aus Dankbarkeit, wir feiern im Bewusstsein seiner Gegenwart. Wir feiern Gott auf unspektakuläre Weise in unserem täglichen Leben, etwa indem wir aufmerksam sind für die kleinen Dinge des Alltags, indem wir für uns und für andere sorgen oder indem wir dankbar sind für die Geschenke Gottes. Und genauso feiern wir Gott an besonderen Anlässen, die wir bewusst als Feier oder als Fest gestalten und mit anderen teilen. Um diese gottesdienstlichen Feiern in ihren verschiedensten Formen soll es im Folgenden in erster Linie gehen.

 

Was also tun wir, wenn wir feiern? Wer von aussen beobachtet, sieht zunächst einmal ganz verschiedene Tätigkeiten: Menschen versammeln sich, sie singen, tanzen, sie knien nieder, stehen auf und setzen sich wieder, sie hören zu, deklamieren, schreiten, sie trommeln oder klatschen, ziehen besondere Kleider an, sie schliessen die Augen, sie essen und trinken und tun viele andere Dinge. All diese Tätigkeiten kommen auch in anderen Zusammenhängen vor. Aber im Fest oder in der Feier gehen sie eine besondere Verbindung ein. Was da getan wird und welche Verbindung diese Elemente bei der Feier eingehen, dies  versuchen die Religionswissenschaft und andere Disziplinen begrifflich genauer zu fassen. Sie sagen etwa: Wer feiert, nimmt gemeinsam mit anderen Menschen an einer komplexen und meistens rituellen Inszenierung teil, in der die Alltagswelt und ihre Routinen hin zum Erlebnis einer anderen Wirklichkeit oder einer anderen Dimension der Wirklichkeit überschritten werden. Die verschiedenen Aktivitäten sind zunächst einmal darauf ausgerichtet, eine Atmosphäre zu schaffen, die den Teilnehmenden den Weg in diesen anderen, in diesen ausseralltäglichen Raum ermöglicht oder erleichtert. Das kann in ekstatischer oder in mystischer Weise geschehen, expressiv oder andächtig, ausgelassen oder zeremoniell und feierlich, spontan oder nach strengem Muster.

 

Bei religiösen Feiern geht es immer auch um bestimmte Inhalte oder Glaubensüberzeugungen. Diese werden aber nicht einfach mitgeteilt oder gelehrt oder vorgeschrieben. Feiern oder Rituale sind weder Dogmatik-Vorlesungen noch Moralpredigten. Sie argumentieren nicht, sie gehen wirkungsvoller vor. Das heilsstiftende Geschehen, der gemeinsame Glaube oder die geteilte Hoffnung, sie werden erzählt, in Form eines Mythos oder einer Geschichte, die in eingängiger Form auf den Punkt bringt, worum es geht. Und es bleibt nicht beim Rezitieren oder Erzählen: Häufig werden diese Glaubensüberzeugungen und Grundtexte dramatisiert und gespielt, sie werden in zeichenhaften Handlungen dargestellt und vergegenwärtigt, sie finden einen Ausdruck in handfesten Symbolen. Die Feiernden partizipieren an dieser Inszenierung, sie werden selbst zu einem Teil des Ganzen, sie nehmen innerlich teil, in ihrem Herzen, und ebenso durch die Handlungen, die sie selber vollziehen. Die in Zeichen verdichteten Glaubensüberzeugungen können sie dabei sinnlich wahrnehmen, sie können sie sehen und hören, sie können sie berühren und mit den Bewegungen ihres Körpers nachvollziehen. Dadurch prägen sie sich ein, und vielleicht ist es gerade der Vollzug solcher Rituale und das gemeinsame Feiern, das diese Grundüberzeugungen plausibel macht und ihnen ihre Gültigkeit verleiht.

 

Wichtig ist für unsere Fragestellung vor allem dies: Feiern und Rituale sind mehr als das, was man auch durch das Studium der Texte lernen oder durch eine Predigt über die Texte mitteilen könnte. Beim Feiern werden – wenn auch in unterschiedlichem Mass – konkrete Handlungen vollzogen, die eine leibliche und sinnliche Dimension und zugleich Zeichencharakter haben. Darauf ist das Feiern angewiesen, ohne dies geht es nicht. Und genau dieser sinnlichen Dimension widmet der Kirchensonntag besondere Aufmerksamkeit.

 

Weshalb das Essen ein ideales Zeichen ist

Wo aber finden die Religionen diese sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, diese leiblichen Vollzüge, auf die sie für ihre Feiern angewiesen sind? Welche Sinne sollen und können angesprochen werden? Ein Blick in die Religionsgeschichte zeigt, dass fast alles, dass Gegenstände und Handlungen unterschiedlichster Art mit Bedeutung versehen und zum Zeichen werden können. Und eben so schnell wird klar, dass alle Sinne involviert sein können – neben dem Sehen und dem Hören, die in unserer Kultur als höhere Sinne privilegiert sind, kommen auch die sogenannten niederen Sinne in Frage, das Schmecken und Riechen also und der Tastsinn. Ich möchte mich bei meinen Überlegungen auf ein Beispiel konzentrieren, auf das Essen nämlich und die damit verbunden Sinne. Zunächst möchte ich zeigen, weshalb das Essen die für das Feiern notwendige sinnliche Zeichendimension in fast idealer Weise zur Verfügung stellen kann.

 

Das Essen (und das Trinken notabene) ist mit elementaren Erfahrungen verbunden, von denen viele unabweisbare leibliche Komponenten aufweisen: Essen müssen wir alle, es ist eine Lebensnotwendigkeit, eine Grundbedingung des Lebens. Essen wir nicht, macht sich Hunger bemerkbar, wir werden geschwächt – und wenn wir den Hunger stillen, erfahren wir ein Gefühl der Sättigung, der Stärkung. Beim Essen machen wir Geschmackserfahrungen, und je nach dem, was wir essen, empfinden wir Genuss oder Ekel. Zudem umfasst das Essen notwendiger­weise den Akt der Einverleibung einer fremden Substanz, einen Akt, den einschlägige Erfahrungen als riskant ausweisen, da Speisen schädliche oder bewusstseinsverändernde Wirkungen haben können. Ist eine Substanz aber einmal diesen Weg gegangen, so wird sie zu einem Teil unseres Körpers, zu einem Teil von uns selbst.

 

Beim Essen werden wir, wie deutlich oder verschwommen auch immer, mit Erinnerungen konfrontiert: Geschmackserinnerungen sind stark und verbinden das aktuelle Essen mit früheren Situationen, in denen uns derselben Geschmack begegnet ist. Dazu kommt eine Spur, die in die ersten Lebensjahre zurückführt, zu den mit dem Gestillt-Werden sich einstellenden Erfahrungen von Zuwendung, Liebe und Geborgenheit, aber auch von Ablehnung und Verlassen-Werden. Als entfernte Erinnerung zumindest dürfte auch die Erfahrung noch mitschwingen, dass sich das Gelingen der Nahrungsbeschaffung zumindest zum Teil unserer Kontrolle entzieht. Das gleiche gilt heute auch für die Erfahrung, dass unsere Ernährung die Vernichtung von pflanzlichem oder tierischem Leben notwendig macht – eine Gewalttätigkeit, die sich beim Essen selbst fortsetzt: mit Zähnen, mit Messern und Gabeln.

 

Zu den elementaren Erfahrungen, die mit dem Essen verbunden sind (und dem Kochen, das ja immer mitgedacht werden muss), gehört etwas weiteres: Wir kochen gemeinsam oder allein, für uns oder für andere, wir essen allein oder gemeinsam, wir essen mit den einen, aber nicht mit den anderen, wir teilen oder behalten das beste Stück für uns – Essen ist ein Ort der Erfahrung und Einübung sozialer Beziehungen. Und ein letztes: Beim Kochen wird aus verschiedenen Nahrungsmitteln ausgewählt, es wird kombiniert und getrennt, es wird so oder anders zubereitet, und in all dem werden die zunächst rohen Speisen in etwas Neues transformiert – das Essen ist auch eine Grundform kultureller Tätigkeit, hier machen wir die Erfahrung, dass wir etwas gestalten können, es ist ein Modell für die Welt- und Lebensgestaltung.

 

Dass das Essen elementare, mit dem Leben verbundene und allen zugängliche Erfahrungen umfasst, ist nun der Grund dafür, dass es für Symbolisierungen besonders geeignet ist und offen dafür, mit Bedeutungen versehen und zum Zeichen gemacht zu werden. Welche Bedeutungen dem Essen im Einzelnen zugeschrieben werden, das ist dann aber variabel und kulturell geprägt. So gelten je nach Kontext bestimmte Nahrungsmittel als natürlich oder männlich, als rein oder luxuriös – oder im Gegenteil als künstlich oder weiblich, als unrein oder ärmlich. Dasselbe gilt auch für die mit der Ernährung verbundenen Handlungen: Kochen kann Bedeutungen wie Dienen oder Kunst annehmen, das gemeinsame Essen kann Versöhnung oder Intimität konnotieren, Essen in grossen Mengen kann als Sünde oder als Beweis der Kraft erscheinen und der Verzicht darauf als Hingabe an Christus oder als Ausdruck der Selbstkontrolle. Speisen und damit verbundene Handlungen werden durch solche kulturellen Konventionen zu einer Sprache, und auf dieser Basis werden sie dann auch mehr oder weniger bewusst als Praktiken angewendet oder zu Kommunikationszwecken eingesetzt: Essend streben wir nach Harmonie mit der Natur oder nach Vereinigung mit Gott, essend demonstrieren wir Wohlstand oder Kennerschaft.

 

Aufgrund der beschriebenen elementaren Erfahrungen und wegen seines Zeichencharakters kann das Essen auch zur Metapher werden, es kann als sprachliches Bild für etwas anderes verwendet werden. Die Erfahrung des Hungers bietet sich dafür an, das Verlangen nach anderen Dingen zur Sprache zu bringen (Liebes- oder Machthunger, Wissensdurst) oder einen grösseren Hunger, eine grosse Sehnsucht zu bezeichnen (den Hunger und Durst nach Gerechtigkeit etwa oder die Sehnsucht nach Gott, nach dem sich die Seele sehnt, wie der Hirsch nach frischem Wasser). Wer essend Sättigung und Stärkung erlebt hat, kann dies zum Bild für Erfüllung und erfülltes Leben machen. Der kulinarische Genuss kann zum Bild für den Himmel werden. Und auch andersherum: Schädigende und gefährliche Nahrung können genau wie der andauernde Hunger den Hintergrund abgeben für die Vorstellungen der Hölle. Und die Einverleibung, bei der etwas zu einem Teil von uns selbst wird, bietet sich an, um die Aneignung von anderen Dingen darzustellen (etwa den Akt, mit dem sich der Prophet Ezechiel den göttlichen Auftrag zu eigen macht: Er isst die Schriftrolle, und sie wird in seinem Mund süss wie Honig).

 

Essend Gott feiern

Wir haben gesehen, dass wir beim Feiern auf konkrete Handlungen angewiesen sind, die eine leibliche und sinnliche Dimension und zugleich Zeichencharakter haben. Und wir haben weiter gesehen, dass es im Bereich des Essens eine Vielfalt von solchen anschaulichen Elementen gibt, die in hohem Mass dafür geeignet sind, mit Bedeutungen versehen und als  Zeichen – als essbare Zeichen sogar – verwendet zu werden. Es überrascht daher nicht, dass das Essen in allen Kulturen und Religionen und in vielen ihrer religiösen Feiern eine zentrale Rolle spielt. Dies wird häufig im Sinn einer Semiotisierung von elementaren biologischen oder sozialen Erfahrungen beschrieben: Religiöse Mahlfeiern erscheinen dabei als kulturspezifische Gestaltungen einer Vitalfunktion, wobei zum Beispiel Erfahrungen der Befriedigung eines elementaren Bedürfnis­ses einen Fundus für Übertragungen bilden. Die konkrete Ausgestaltung dieser Verbindung  von Essen und Feiern kann dann aber sehr unterschiedlich ausfallen, sie ist in hohem Mass kulturell geprägt. Hier möchte ich in aller Kürze vier Beispiele dafür nennen, wie das Essen in gottesdienstlichen Feiern präsent sein kann.

 

Wahre Nahrung

Essen ist eine Grundbedingung des Lebens, Speisen sind lebensnotwendig. Von daher liegt es nahe, das Essen als Metapher für wahre, für geistliche Nahrung zu verwenden und bestimmte Speisen – meist Grundnahrungsmittel wie das Brot – zum Zeichen für die Quelle des Lebens schlechthin zu machen: Ich bin das Brot des Lebens, sagt der johannäische Jesus, und Augustinus spricht von Gott als dem Brot seiner Seele. Und Angelus Silesius schreibt von den Sakramenten: «Du zuckersüßes Himmelbrot, / Du wahre Seelenspeise, / Du Arznei für den ewgen Tod, / Du Kost auf meiner Reise. / Wie herzlich sehn ich mich nach dir, /Komm doch, mein Schatz, o komm zu mir…» Dies alles dient nun aber nicht nur dem bildhaften Reden und Schreiben über Gott. Das solchermassen mit Bedeutung aufgeladene Nahrungsmittel bietet auch die Chance, den Vorgang der geistlichen Stärkung, das Schöpfen aus der Quelle des Lebens in einem konkreten Essakt zu veranschaulichen und sinnlich erfahrbar zu machen. Und mehr noch: Den Verzehr des Brotes können die Beteiligten als einen Akt verstehen, in dem das wahre Leben vermittelt wird, in dem die Einverleibung des Brotes/Leibes als «Medizin der Unsterblichkeit» ebendiese Unsterblichkeit verleiht. Der Rahmen, in dem dies geschieht, ist eine gottesdienstliche Feier, und diese gewinnt ihre Kraft gerade durch das tatsächliche Verzehren einer Speise. Dies gilt selbst noch dort, wo es sich, wie beim landläufigen Abendmahl, bloss um eine ausgesprochen reduzierte Form des Essens handelt.

 

Vorgeschmack auf das Himmelreich

Essen kann Lust erzeugen, es kann ein Genuss sein. Dieser Aspekt des Essens wurde immer wieder aufgegriffen, um das Paradies, den Himmel oder das Elysion zu beschreiben, jene Orte, von denen man glaubte, dass dort das Leben in Fülle und in der Gegenwart Gottes auf einen warte. Der Prophet Joel etwa beschreibt dies mit den Worten: «Da triefen die Berge von Wein, und die Hügel fliessen von Milch, und alle Talrinnen Judas strömen von Wasser.» (Joel 3,18 bzw. 4,18). Im slawischen Henochbuch lesen wir: «Ich aber blickte hernieder und sah die Orte des Paradieses von unaussprechlicher Schönheit. Und ich sah alle schön blühenden Bäume und ihre Früchte reif und wohlriechend und alle Nahrung herbeigebracht, sprudelnd, mit duftendem Wohlgeruch.» Und Vergil zeichnet das Elysion als ein Land, das vom Gold reifer Ähren strahlt, in dem die Weinberge von reifen und saftigen Trauben strotzen und der Honig aus den Eichen tröpfelt. Auch Jesus benutzt das Gastmahl als Bild für das Reich der Himmel und er spricht vom künftigen Weintrinken beim eschatologischen Festmahl. Das ist zunächst auch in der Kirche nicht anders; etwa von Augustin an werden dann aber die Genüsse des Himmels vergeistigt, im Vordergrund steht nun die Gottesschau. Trotzdem sind die Bilder des himmlischen Essens nun in der Welt, und daher kann jetzt auch umgekehrt das irdische Essen, etwa ein gemeinsames Agapemahl, als Bild für das himmlische Festmahl gedeutet werden. Vor allem aber ist es nun möglich, beim Essen – jedenfalls dort, wo es reichlich ist und gut – einen Vorgeschmack auf den Himmel zu erleben, mit dem sich Worte (und Predigten) allein kaum messen können.

 

Zeichen für die Zusammengehörigkeit

Das Essen hat immer eine soziale Dimension. Deshalb kann das gemeinsame Essen zu einem starken Zeichen für die Zusammengehörigkeit werden. Im Akt des gemeinsamen Essens, bei dem die Essenden an einem Tisch sitzen, bei dem sie die gleichen Bewegungen ausführen, das gleiche essen und trinken, bei dem sie teilen, was sie essen – bei diesem Akt wird die Idee der Gemeinschaft sinnfällig ausgedrückt, und mehr noch: Die Gemeinschaftet wird gestiftet, erhalten und gestärkt. Dass die Kommensalität (gemeinsames Essen) Gemeinschaft schafft und dem Zusammenhalt dient, dass es aus Fremden Freunde macht und aus Feinden Versöhnte, dies wird in der soziologischen und religionswissenschaftlichen Literatur durchwegs betont. So ist es für die Ernährungssoziologin Eva Barlösius unbestritten, dass es neben der Mahlzeit keine andere soziale Institution gibt, die in ähnlicher Weise Gleichheit, Gemeinschaft, Zugehörigkeit symbolisiert. Dies alles gilt für Mahlzeiten unterschiedlichster Art, auch für private Einladungen. Aber es gilt auch für das Abendmahl und für die Agapefeier, und dies sogar in einem doppelten Sinn: Gemeinschaftsstiftend ist zum einen die aktuelle Feier des Abendmahls. Darüber hinaus aber gilt: Das Wissen darum, dass überall in der Christenheit in mehr oder weniger gleicher Weise Brot gebrochen und Wein getrunken werden, stärkt auch über den konkreten Anlass hinaus den Zusammenhalt und die gemeinsam Identität. Verwoben mit dem Essen und mit der Metaphorik der Speisen ist in solchen Mahlfeiern oft auch die Erzählung einer Art Gründungsgeschichte. Dies ist nicht nur beim Abendmahl der Fall, sondern genauso beim jüdischen Passamahl, das mit den ungesäuerten Broten an den Auszug aus Ägypten erinnert und den befreienden Gott sinnlich gegenwärtig hält.

 

Egalitäre Gegengesellschaft

Bei solchen Essen geht es aber nicht nur um die Bestätigung der Gemeinschaft. Die Art und Weise, in der gegesssen wird, bildet zugleich auch die interne Struktur der jeweiligen Gruppe ab: Sind bestimmte Speisen einigen Auserwählten vorbehalten, steht das Essen für eine hierarchische Struktur; wird hingegen alles geteilt, betont das Essen die Egalität. Die Tischgemeinschaft, bei der das Lebensnotwendige geteilt wird, kann so zum Bild einer gerechten, einer egalitären Gegengesellschaft werden. Sobald es sich nicht nur um ein Bild, sondern um ein tatsächliches Essen handelt, wird auch hier die Wirkung verstärkt. Durch das wiederkehrende gemeinsame  Essen wird die Egalität anschaulich und denkmöglich, sie wird im Kleinen bereits erfahren und dadurch aus dem gänzlich utopischen in einen Möglichkeitsraum versetzt. Dieses Moment findet sich bereits bei den Essen, die vom irdischen Jesus überliefert sind: Sie stehen allen offen, teilnehmen können auch jene, die in der Welt ausgeschlossen und marginalisiert sind, alle sind am Tisch, alle werden satt. Auch in der Geschichte des Abendmahls haben die Beteiligten immer wieder solche Erfahrungen gemacht und diese z.T. auch explizit politisch verstanden – in jüngster Zeit etwa in der Praxis der Basisgemeinden in Lateinamerika oder auf den Philippinen. Dass es daneben auch das andere gibt, den Ausschluss der Aussenstehenden und die Betonung der Hierarchie in der Gemeinde, dies soll hier wenigstens erwähnt werden.

 

Die Sinne als Organe der Wahrnehmung Gottes

Essen ist lebensnotwendig. Wo Nahrungsmittel fehlen, wird der Hunger gelegentlich als Zeichen gedeutet: als Strafe oder Prüfung Gottes. Umgekehrt wird das Essen auf dem Tisch häufig als Zeichen für die Güte Gottes verstanden. Entsprechend leiten die Religionen die Menschen dazu an, Gott für Speis und Trank zu danken, Tischgebete zu sprechen und Erntedank zu feiern, und weiter: Gott um das tägliche Brot zu bitten und um gute Ernten.

 

Speisen, die am Leben erhalten, und Speisen, die Freude und Genuss bereiten: Sie werden zu sichtbaren, berührbaren und duftenden Manifestationen von Gottes Freundlichkeit. Beim Essen und Trinken kann diese Freundlichkeit mit dem Geruchs- und Geschmackssinn wahrgenommen werden, und manchmal scheinen der Körper und die Sinne geradezu zu den Organen der Wahrnehmung Gottes zu werden. Tatsächlich lesen wir in den Psalmen (und wiederholen es in der Abendmahlsliturgie): «Schmecket und sehet, wie gütig der Herr ist.» (Ps 34, 9)

 

Barthold Heinrich Brockes, Verfasser einer barocken Gedicht-Sammlung mit dem Titel «Irdisches Vergnügen in Gott», hat diesen Gedanken in einem langen Gedicht aufgenommen. Dem Autor wird darin eine Früchteschale zum Andachtsbild. «So oft ihr schöne Frücht' erblickt, riecht, fühlt und schmecket, / So schmeckt und sehet doch, wie freundlich Gott der Herr», ist da zu lesen. Gott fordere von uns kein «langes Mund-Geplärr» als Dank, sondern bloss dies: «Geniesset sie mit Lust, denckt Sein, so danckt ihr schon.» Und schon fast programmatisch für eine sinnliche Theologie ist folgende Passage:

 

«Begreifen können wir die Wercke Gottes nicht.

Der Mensch scheint nicht dazu gemacht zu seyn;

Wohl aber ist er zugericht't,

Mit Seel' und Geist, durch aller Sinnen Thüren,

Der überall verhüllten Gottheit Schein

Als gegenwärtig zu verspühren.»

 

Gottesdienstliche Formen, in denen von der Güte Gottes nicht nur die Rede ist, in denen sie vielmehr in essbaren Zeichen präsentiert wird und diese mit Lust und Dankbarkeit genossen werden, sie sind notwendig, damit wir wirklich mit allen Sinnen – «durch aller Sinnen Thüren» – Gott feiern.

 

Adrian Portmann

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