Wie ein Stückli Brot der Seele schmeckt

   

 

In der Bankreihe sitzen nur eine alte Frau und ich. „Es ist nicht mehr wie früher. Wo bleibt der betörende Weihrauchduft? Warum zelebriert der Priester die Messe eigentlich nicht mehr in geheimnisvollem Latein? Der Organist hat die Orgel mässig im Griff. Und kühl ist es auch noch – brrrrr.“

 

Missmutig zerre ich an meinem Mantel und rutsche auf der Holzbank nach vorn. Die Haltung formt einen Buckel - einen Katzenbuckel. Gott seis gedankt, kann niemand meine Miesmuschel-Gedanken lesen, das wäre peinlich. Nun, vielleicht gälte das ja nicht nur für mich... mein Blick schweift über die Gestalten vor mir, und meine Mundwinkel zeigen kurz nach oben.

 

„Sie sind herzlich eingeladen, nach vorne zu kommen und gemeinsam das Abendmahl...“ Ich schrecke auf: Die alte Dame neben mir neigt sich mir zu und flüstert mir ins Ohr, ob ich ihr das Stückli Brot an den Platz bringen könne. Sie sei heute nicht gut zu Fuss. Ohne zu überlegen, nicke ich zustimmend und balanciere zur Bank hinaus, um mich in die Menschenschlange einzuordnen. Langsam bewegen wir uns auf den Altar zu. Wie bringe ich das nun der Messehelferin vorne bei? Sie legt jeder Person ein Stückchen Brot in die Hand und sagt: „Der Leib Christi.“ Ich bekomme Herzklopfen. Was sagen? „Amen. Eine doppelte Portion bitte.“ Im Kopf jagen sich die Gedanken. Jesses. Ich bin dran und... hauche einzig „Amen“.

 

Das kleine Stück Brot liegt in meiner Hand. Was mache ich jetzt? Selber essen oder verzichten? Unschlüssig schussle ich durch die halbe Kirche. Grundgütiger, wo ist die Bankreihe bloss? Ah, dort. Ich sehe die alte Dame mit ihrem rosa Seidenschal. Wie verloren sie wirkt, inmitten dieses hohen Kirchenraumes. Wortlos setze ich mich neben sie und strecke die Hand aus. Sie schaut mich strahlend von der Seite her an, nestelt ihren Arm hervor und versenkt das Brot in ihren Mund. „Vielen Dank!“

 

Am Schluss der Messe drückt mir das Alterchen den Arm: „Dir sit en Ängu.“ Ich muss lächeln und schüttle den Kopf. „Nei nei. Sicher nid.“

 

Eine banale, unbedeutende Geschichte, nicht wahr? Nie werde ich erfahren, wie das Brot an jenem Sonntagmorgen meinem Gaumen geschmeckt hätte (wahrscheinlich leicht fad, wie immer). Aber wie die Freude in den alten Frauenaugen meiner Seele schmeckte und die Kirche jäh hell und warm erscheinen liess, das werde ich bis ans Lebensende nicht vergessen.

 

Wäre Diakonie eine Art spirituelles Wahrnehmungsinstrument, würden wir wohl manches anders hören, riechen, schmecken und tasten. Was vielen ungeheuer wertvoll und begehrenswert erscheint (z.B. sich eine Flasche Wein für tausend Franken auf dem Luxusdampfer Queen Mary leisten zu können), erschiene als unbedeutender Fliegendreck. Und eine kleine freundliche Geste der Nachbarschaft an einem grauen Sonntagmorgen in der Dreifaltigkeitskirche zu Bern bekäme einen lichtfarbigen Glanz, strahlender als die kostbarste Chopard-Diamantenuhr.

 

Danièle Eggenschwiler

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