Bevor der Himmel einstürzt

   

 

Sie stolperte über den Asphalt, ohne zu wissen wohin. Die Sonne stand am Himmel als wäre nichts geschehen. Emilio hatte geschrien: «Dann hau doch ab und komm nicht wieder zurück!» Dieser Satz hallte in ihrem Kopf, von einer Schläfe zur anderen, drehte sich im Kreis, immer schneller, immer schneller. Ihr wurde schwindlig. Atemlos blieb Nathalie stehen, ihre Beine zitterten, der Magen war verkrampft, der Hals zugeschnürt. Sie hatten sich schon wieder gestritten. Es brauchte so wenig dazu, in letzter Zeit. Die Gefühle waren ganz eigenmächtig, in Sekundenschnelle konnte Zuneigung in Ablehnung, ja Feindseligkeit umschlagen. Emilios wutverzerrtes Gesicht war Spiegel ihrer eigenen Empfindungen gewesen.

 

Länger stehen bleiben war unmöglich, sie musste laufen, sich bewegen, flüchten oder in den Boden versinken und verschwinden ins Nicht-mehr-Nathalie-sein. Aber das funktionierte nicht, sie wusste es. Sie war gezwungen, manchmal auch die wütende und zitternde Nathalie zu sein, so lange sie lebte. Wollte sie denn überhaupt noch leben? Die Fäuste geballt, den Kopf gesenkt lief sie weiter.

 

Nathalie drückte auf die Messingklinke und stemmte die Kirchentüre auf. Sie war offen! Ruhiges Halbdunkel und der Geruch nach erloschenen Kerzen empfingen sie. Wie kühl es hier war. Wie eigenartig. Wie still. Ausser ihren Schritten auf dem Steinboden war nichts zu hören. Wie ferngelenkt zog es sie nach vorne, zum Kreuzschiff, zu den Blumen, zum Altar. In der zweitvordersten Reihe setzte sich Nathalie vorsichtig auf die Holzbank, setzte die Füsse auf den unteren Balken und atmete durch. Der Drang nach körperlicher Bewegung war verschwunden. Sie sass da und atmete tief, die Augen auf das Holzkreuz gerichtet, das gross und ruhig von der Decke hing. Tränen schossen ihr in die Augen. Es schien, als schmelzten die lauten und sich im Kreis drehenden Gedanken weg und als bahnten sie sich in Form salziger Rinnsale einen Weg über ihre Wangen, den Hals hinunter, um vom Stoff ihrer Bluse aufgesogen zu werden.

 

Ich hatte in einer anderen Bankreihe gesessen und mich gerade erheben wollen, als laute Schritte ertönten. Ich hielt inne. Eine junge Frau rückte in mein Blickfeld. Sie schien ganz in ihre Welt versunken zu sein und bemerkte mich nicht. Die Holzbank knarrte leise, als sie sich setzte. Einige Augenblicke sass die Unbekannte still da. Plötzlich begannen ihre Schultern zu beben und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ich konnte sie betrachten, vorsichtig und ein bisschen verwundert. Keine halbe Stunde zuvor war ich selber so da gesessen Gedankenbilder über Kirchenräume tauchten auf: Orte der Freude, des Dankes, der Trauer, des Fragens, der Anklage, des Suchens, der Hoffnung. Eigentümliche Orte.

 

War es Zufall, dass wir fast im gleichen Augenblick aufstanden und langsam gegen den Ausgang schritten? Als eher zurückhaltende Person spreche ich fremde Menschen selten an. Doch dieser Moment war ein spezieller. «Entschuldigen Sie, ich habe die nächsten zwei Stunden nichts besonderes zu tun und möchte gern auf der Casino-Terrasse einen Kaffee trinken gehen», sagte ich. «Haben Sie Lust mitzukommen?» Die junge Frau blickte mich an, zögerte, und nickte: «Gut. Ich habe auch Zeit. Ich komme mit.» Unterwegs über die Bundesterrasse sprachen wir nicht viel. Das Wissen um den gemeinsamen Aufenthalt in der Kirche verband uns, wortlos.

 

Ich weiss nicht mehr, wie lange wir unter den alten Bäumen im Casino sassen. Nathalie erzählte mir, warum sie in der Kirche war. Sie schilderte ihre Zweifel, ihren Kummer, ihre Wut und ihren letzten Streit mit Emilio. Sie sagte: «Du bist älter und hast Erfahrung. Was soll ich jetzt tun?» Ich schüttelte den Kopf: «Zwar bin ich einiges älter als du, aber in meiner Ratschachtel sieht es ganz mager aus. Ich bin alles andere als eine Beziehungsmeisterin. Aber ich kann dir die Adresse einer kirchlichen Partnerschaftsberaterin, ganz in der Nähe, geben. Ich schätze sie sehr.» Nathalie steckte den Zettel mit der Adresse in die Tasche. Eine Zeitlang schwiegen wir.

 

«Ist es nicht seltsam, dass ich immer wieder in einer Kirche lande?» Nathalie beugte sich über ihr Glas. «Eigentlich gehe ich nicht absichtlich dorthin. Genau wie heute. Ich habe ja gar keine Beziehung mehr zu Gott. Aber oft, wenn ich nicht mehr weiter weiss und das Leben weh tut, lande ich in einer Kirche. In irgendeiner. Dort kann ich einfach ungehemmt traurig sein. Aber noch viel merkwürdiger ist, dass ich dann später «uf e Geissart» zur Ruhe komme. Vielleicht liegt es an der besonderen Kirchenatmosphäre? Was täte ich ohne offene Kirchentüren! Unvorstellbar!» Ich verstand Nathalie sehr gut: auch in meinen glaubenfernsten Lebensphasen zog es mich immer wieder in Kirchen hinein. Die Stille, das alte Gemäuer, der Geruch oder ein besonderer Gegenstand vermochten es immer wieder, den Geist oder das Herz zu beruhigen, ins Gleichgewicht zu bringen, die Hitze zu kühlen oder die Kälte zu wärmen.

 

Zurück zur Gegenwart. Auf dem Tisch vor mir die Tastatur, im Fensterrahmen das Inselspital, das hohe Swisscom-Gebäude und die Friedenskirche. Ich denke an Nathalie. Emilio und sie haben sich, nach gemeinsamen Besuchen der Partnerschaftsberatung, getrennt. Ich hörte schon lange nichts mehr von ihr. Aber solange es offene Kirchenhäuser gibt, muss ich mir keine allzu grossen Sorgen um sie machen.

Danièle Eggenschwiler