Die wirtschaftliche Seite im Projekt «Kirche und regionale Entwicklung»

   

 

Landwirtschaft

 

In der Nähe sein wollen, heisst hingehen. Nähe hat einen dynamischen Charakter. Wer Nähe statisch lebt, engt ein, schafft nicht Vertrautheit. Aufmerksames Kommen und wieder Gehen sind die Qualitäten von lebensdienlicher Nähe. Solche Nähe zeichnet kirchliches Handeln seit jeher aus. Neben den traditionellen Aufgaben kommt in unserem Kirchengebiet eine neue Herausforderung auf uns zu.

 

Der ländliche Lebensraum unter Druck

Seit rund zehn Jahren lässt sich in der ganzen Schweiz ein klarer Trend beobachten: Die ländlichen Regionen, insbesondere die Gebiete in mehr als zwanzig ÖV-Minuten Entfernung vom nächsten regionalen Zentrum, wachsen weniger als Städte und Agglomerationen. Und schlimmer, an vielen Orten wird sich ein Rückgang nicht aufhalten lassen. Läden, Schulen, Arztpraxen und Betriebe machen zu. Die Schlussfolgerungen des Bundes lauten, bisherige Infrastrukturmassnahmen können gegen diesen Trend wenig ausrichten, es sei unternehmerisches Handeln zu fördern.

 

Viele der über zweihundert Kirchgemeinden unserer Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn befinden sich mitten in dieser Dynamik. Die Kirche ist nicht immun gegenüber dem Wandel, sie verändert sich zwangsläufig mit. Für die Kirchgemeinden auf dem Land ergeben sich daraus in zweifacher Weise neue Herausforderungen. Zum einen sind sie selbst vom Wandel betroffen. Sie verlieren durch Abwanderung Mitglieder, tendenziell bleiben die älteren und gehen die jüngeren. Steuereinnahmen und Stellenprozente nehmen ab. Zum anderen bekommen die Kirchen zur Aufgabe, im Strukturwandel die Menschen zu trösten, ihnen Hoffnung zu spenden und für die Entwicklung die Wichtigkeit lebensdienlicher Werte anzumahnen.

 

Lebensdienlichkeit

Aus kirchlicher Sicht ist uns das wichtigste Anliegen, dass der Strukturwandel in den ländlichen Regionen lebensdienlich vonstatten gehen soll. Lebensdienlichkeit ist ein einladender Begriff wer will nicht dem Leben dienen? Bei näherer Betrachtung nimmt allerdings seine Unschärfe zu, denn Leben ist ein komplexes Gefüge von Geben und Nehmen, besonders in der Wirtschaft.

 

Der wichtigste Faktor für den Erhalt der ländlichen Regionen als Lebensraum sind Arbeitsplätze. Ob in einer Region Arbeitsplätze erhalten bleiben, neu geschaffen werden oder verloren gehen, ist nicht bloss eine Frage der wirtschaftlichen Konjunktur in einer Zeit der zunehmenden grossräumigen Verflechtungen (Globalisierung). Ausschlaggebend sind auch nicht bloss unterschiedliche Lohnkosten, Transportwege oder allgemein bessere Rahmenbedingungen. Eine wichtige Rolle spielen hingegen die Leistungsbereitschaft, das Qualitätsbewusstsein und die unterschiedlichen Ausbildungsniveaus. Faktoren, die als Markenzeichen der schweizerischen Wirtschaftskraft gelten. Viele Betriebe in ländlichen Regionen beweisen, dass ein konkurrenzfähiges Mithalten an der Weltspitze möglich ist. Auch der kleine Laden im Dorf hat eine Chance, wenn nicht alle Bewohner ihre Lebensmittel beim Grossverteiler im nächsten regionalen Zentrum oder in der Stadt bzw. Agglomeration einkaufen.

 

Die Globalisierung diktiert aber oft bis in die entlegensten Winkel dieser Welt die wirtschaftliche Marschrichtung (mehr, schneller, billiger, sozial und ökologisch bedenklicher) und das Tempo. Der Strukturwandel drängt zur Bündelung der Kräfte, verlangt nach Kooperationen und Vernetzung. Und weil der Strukturwandel nicht naturgesetzlich abläuft, sondern im Detail immer aus Entscheidungen von Personen resultiert, können wir den Wandel werteorientiert gestalten.

 

«Kirche und regionale Entwicklung» ist aus Anlass des Strukturwandels ein Projekt, das mehr Nähe schaffen will zwischen Kirche bzw. Kirchgemeinden und den Betrieben im Gemeindegebiet. Das Projekt geht von den Tatsachen aus, dass viele Betriebe durch den Strukturwandel unter zunehmenden Druck geraten. Muss ein kleines oder mittleres Unternehmen (KMU) schliessen, gehen Arbeitsplätze verloren und die Attraktivität einer Region nimmt für die Bevölkerung ab. Die Menschen wissen das, und vielerorts ist eine auf Tradition gewachsene Verbundenheit zwischen den Betrieben und der Bevölkerung vorhanden. Diese Verankerung in der ansässigen Bevölkerung ist wiederum ein wichtiges Kapital der Betriebe. Motivation und Leistung sind höher, wenn Mitarbeitende zu «ihrem» Betrieb eine emotional starke Beziehung haben.

 

«Kirche und regionale Entwicklung» funktioniert nach dem Prinzip «Stakeholder-Dialog»: Stakeholders sind im Unterschied zu den Shareholders nicht nur die Unternehmenseigentümer (Aktionäre), sondern alle von den Aktivitäten eines Betriebs betroffenen Gruppen und Einzelpersonen wie Angestellte und deren Familien,Lieferanten, Nachbarn, Bewohner derselben Region etc.

 

Kirche als Hoffnungsträgerin

Die Kirchgemeinde ist der Ort, wo der Zusammenhang zwischen werteorientiertem Wandel, dem Befinden, den Befürchtungen und Hoffnungen der Menschen und gemeinsame Handlungsoptionen im Licht des Evangeliums beleuchtet werden darf. Die Kirchgemeinde kann vermutlich den schlechten Geschäftsgang oder den Verlust eines Betriebs nur wenig beeinflussen. Aber immerhin. Wer frühzeitig über Probleme spricht, schöpft vielleicht Hoffnung und findet einen Ausweg. Es kommt immer wieder vor, dass unerwartete Lösungen und unorthodoxe Ideen zu einem Ausweg führen.Warum kann solches nicht in der Kirchgemeinde moderiert werden?

 

Wahrscheinlich gibt es in jeder Kirchgemeinde PraktikerInnen und Fachleute für Wirtschaftsfragen. Sie wären in der Lage, den Dialog mit den ortsansässigen oder regionalen KMU zu führen. Die Kirchgemeinden interessieren sich für die Betriebe. Beide gehören zum Ort, zur Region. Beide wollen lebensdienlich sein. Dies sind ausreichend Gemeinsamkeiten, um die Nähe, die ja schon besteht, zum Anlass für einen institutionalisierten Dialog zu machen. Dieser Dialog hat zum Ziel, Kirchgemeinden und KMU näher zusammen zu bringen. Sei es nur damit die Betriebe erfahren, wie hoch die Wertschätzung der Kirche für ihr lebensdienliches Engagement ist. Oder sei es auch, damit unvermeidbare Massnahmen besser aufgefangen werden.

 

Die Kirche hat eine Stimme: Sie übt Kritik, wenn nicht dem Leben gedient wird und sie unterstützt alle Bestrebungen, damit Wirtschaft und Gerechtigkeit zusammenfinden. Das Prinzip des Stakeholderdialogs beginnt schon bei uns: Die wirtschaftlichen Aspekte im Projekt «Kirche und regionale Entwicklung» diskutieren wir gemeinsam mit der Fachstelle OeME der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und Fachleuten der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Bern. Wir unterstützen interessierte Einzelpersonen und Gruppen und freuen uns, wenn ein Prozessin Gang kommt.

Walter Rohrer