Singen als Erlebnis

   

 

Liturgie lebt weit mehr von den Zwischentönen, den Übergängen, den Einleitungen und Abgängen, den kleinen Bewegungen als wir glauben. Das Nahebringen des Singens eines Liedes kann zu einem wichtigen und komplexen Geschehen von Kommunikation, von erlebter Liturgie und Feier werden, mit den einfachen Mitteln der menschlichen Begegnung im Singen eines Textes und seiner Melodie. Die Melodie soll nicht vorgespielt werden, sondern Text und Melodie werden als komponierte Einheit vorgesungen: von einer Singgruppe, vom Chor, von einem Kind vielleicht oder vom Kantor. Es kommt nicht zuerst auf die grosse Stimme oder die saubere Intonation an, sondern dass etwas singend gesagt wird, zugesungen und zugesprochen wird. Man sieht, hört und spürt die Melodie und die Musik.

 

Wir tragen alle noch die Fähigkeit der Nachahmung in uns, verschieden stark verschüttet, aber doch noch da. Es kann zu einem kleinen, aber intensiven und freudigen Erlebnis werden, nachsingen zu können, was da einem entgegen tönt. Das kann wie eine Ermutigung, eine Ermächtigung wirken und ein Steinchen sein, das Grund legt zu einem neuen Verhältnis dem Singen gegenüber. Die Mitwirkenden desGottesdienstes sind der Vorsingenden zugewandt. Niemand blättert in den Unterlagen, um zu wissen, wie es weitergeht. Alle Sinne sind auf diese Person gerichtet, um aufzunehmen und nachher bereit zu sein, einzusteigen und den Gesang mitzutragen. Das verstärkt die Mut-Energie der wohl meist gegenübersitzenden oder gegenüberstehenden Gemeinde stark.

 

Singende Gottesdienstgemeinde

Als singende Gemeinde lohnt es sich, das Augenmerk wieder einmal stärker auf den Vollzug des Singens zu richten. Wie es denn geschehen könnte, dass die Menschen zum Singen motiviert werden, dass sie ein wenig Lust am Tönen bekommen und ein Quentchen davon wahrnehmen, welch wunderbares Instrument sich in uns meist verbirgt oder dann eben offenbaren könnte.

 

Wählen Sie nicht nur die richtigen, sinnigen oder leicht singbaren Lieder aus, überlegen Sie nicht nur, was wohl gut ankommt oder gefällt und was, wenn auch wünschbar, eher zu schwierig sein könnte für die singende Gemeinde. Setzen Sie Zeit und Suche ein dafür, jemanden zu finden, der die zu singenden Lieder vermittelt, hineinbringt in den Anlass, übersetzt in den jeweiligen Moment, durchsichtig macht in dem Wert, den es besitzt und singgerecht werden lässt. Indem er oder sie sagt, dass es keine falschen Töne, sondern nur andere gibt (Zitat des deutschen Komponisten und Blockflötisten Hans-Jürgen Hufeisen). Dass alle Töne heute willkommen seien, indem der Kantor oder Liedervermittler nicht nur mit den Armen dirigiert, sondern den Kontakt mit den Augen, mit der ganzen Person zur Gemeinde, zur Gruppe hin sucht, vorsingt, die Freude am Singen ganz ursprünglich im Tun desselben deutlich werden lässt. Indem er oder sie ermuntert, ermächtigt und weiss, dass viele Menschen den Schatz der Stimme, wenn auch verborgen, so doch nahe bei sich tragen und mehr damit anzufangen wissen als sie glauben. Die Haltung des Vermittlers, die innere Gestimmtheit und Erfülltheit mit den Tönen des Liedes, des Kanons, des Erlebnisses trägt das halbe Singen aller schon in sich.

 

Gibt es jemanden in Ihrer Kirchgemeinde, der dies kann? Es lohnt sich, Zeit und Phantasie einzusetzen, um eine Person (Musiklehrer oder Mitglied des Chores) zu finden, die Freude hat, ihre eigene Erfahrung mit den Schätzen dieses Liedes weiterzugeben, mit Leib und Seele. Vielleicht ist es eben nicht die Organistin, die das Lied zur Gemeinde bringt und auch nicht der Kirchenchorleiter, sondern ein Instrumentalist eines Blockflötenensembles, der Leiter der Harmoniemusik, ein Musiker, der am Ort wohnt. Sie oder er braucht dabei nicht dirigieren zu können, sondern mit ihren eigenen Gesten, mit Augen, Kopf, Leib und dem inneren Impetus, dem Lied zur Geburt im gegenwärtigen Moment zu verhelfen.

 

Im Singen eines Liedes und dessen Geschehen kann es sein, dass die Welt stehen bleibt, dass Zeit anders verrinnt, dass verdichtete Zeit- und Raumwahrnehmung stattfindet. Dann nämlich, wenn Anleitende und am Gottesdienst Mitwirkende in das Klangfeld der Musik eintreten und nur dort sind und sich dies auf die anderen Anwesenden zu übertragen beginnt. Und noch einmal ohne grossen Aufwand, im Hervortreten einer Person, im Hintreten und Sich-Zeigen eines Menschen, der sagt und singt und dies im Gegenüber von Menschen, indem er oder sie singt und sagt: So ist es und es macht Freude, dies zu sagen und zu singen. Ich möchte euch alle einladen, dies nun gemeinsam auch zu tun. Was wäre natürlicher?

 

Kanons und Leitverse

Mit Kanons lässt sich auf einfache Weise mehrstimmiges Singen erreichen. Als Gottesdienstteilnehmerin Kanons zu singen und damit gute Erfahrungen zu machen, heisst, den Kanon viel zu singen. Nicht nur zweimal gemeinsam durch zu singen, um dann bereits eine Kanonstimme übernehmen zu müssen, sondern verbunden mit einem Text, mit einer kleinen Einführung zum Inhalt oder Verbindung zum Text, so dass der Kanon vier- oder fünfmal gesungen werden kann, bis dann zum zweistimmigen oder dreistimmigen Kanon übergegangen wird.

 

Liturgische Anregung

Die kleinen Singformen wie Kanon oder Leitvers/Singspruch eignen sich sehr gut, um liturgisch lebendige Gottesdienste zu gestalten, um eine Melodie an verschiedenen liturgischen Stationen einzusetzen und so etwas wie einen roten Faden durch den Gottesdienst zu ziehen. Warum den Kanon nicht als gesungenes Eingangswort einsetzen? Von der Singgruppe, dem Chor oder angeleitet und vorgesungen durch den Kantor, von der Gemeinde? Als Vertiefung einer Lesung, als Melodie, die einem Text eine Struktur gibt, ihn unterteilt und einfasst? Als Begleitsatz zu den Fürbitten?

 

Auswahl von Liedern für die singende Gemeinde

Im Folgenden möchte ich Ihnen eine kleine Auswahl von Liedern vorstellen, die geeignet sind, das Geschilderte umzusetzen.

 

In der Welt habt ihr Angst (KG 448/RG 668)

Die musikalische Gestalt des Kanons nimmt das ängstlich pochende Herz auf und folgt dabei gleichzeitig dem Sprachfluss. Durch das Wiederholen «in der Welt habt ihr Angst» prägt sich der Rhythmus schnell ein. In der zweiten Zeile dann die Erhebung aus der Welt des Dunkels, langsam erst und vorsichtig, aber schon die dritte Zeile im Blick. Und dann die Aufnahme des Osterhymnus «Christ ist erstanden». Im Kanon werden dann Osterhymnus und Angstklänge ineinander verwoben, der alte Boden durch die neue sich aufschwingende Melodie verwandelt. Einleitende Erklärungen, die dem nachfolgenden Singen helfen können, werden bei diesem Kanonsicher mit dem Gottesdienstthema verbunden werden können.

 

Ihr seid das Salz der Erde (KG 580/RG 839)

Fast nur in kleinen Tonschritten steigt die Melodie auf und ab. Aus dem Boden, darin das Salz ruht, schwingt es sich zum Licht auf um erneuert, mit Liebe und Licht durchströmt, das Dunkel zu verändern. Mit grossem Zug auf halben Notenwerten zu singen, so dass der Spannungsbogen in der zweiten Zeile über die Pause in den Oktavton hinübergetragen werden kann. Der Auftrag, Liebe zu bringen und die Ermächtigung dazu durch die Zusage, Licht und Salz zu sein, wird durch das zügige Tempo verdeutlicht. Der Kanon kann auch als Singspruch einstimmig gesungen werden.

 

Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben (KG 311/RG 849)

Der Auftakt «Ich will euch» ist das Sprungbrett ins Lied, der Motivator und die Kraft. Er ist wichtig. Die wenigen gleichen Töne streben zur Zukunft, zur Hoffnung und wollen daher in sich zunehmend Mut und Kraft wecken. Wie beim Kinderspiel auf der Strasse oder dem Pausenplatz, wo in drei Sprüngen das Ziel erreicht wird, können die drei Töne uns hineinführen in das Tor der Zukunft, das eine Quinte höher liegt. «Spricht der Herr» ist wunderbar kompositorisch abgesetzt und muss auch so eingehalten werden, damit der Kanon aufgeht. Nicht zufällig klingt in der 3. Zeile das «Christ ist erstanden» an.

 

Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht (Rise up 168)

Wer ein Flair für jiddische Musik oder Lieder aus Israel hat, wird sicher diesen Kanon gerne einsetzen. Mit einer Klarinette nebst Melodie auch eine Oberstimme zu spielen, damit ein Zwischenspiel mit Gitarrenbegleitung, Klavier oder dergleichen einzusetzen und so den Kanon zu einem Stück Musik mit gesungenen und instrumentalen Teilen auszubauen, fände hier eine schöne Möglichkeit.

 

Das Mirjamslied: Im Lande der Knechtschaft (RG 866)

Das Singen der Gemeinde könnte sich hier auf den Refrain beschränken, der musikalisch den Tanz aufnimmt. Die Strofen übernimmt die Singgruppe oder der Vorsänger. Ein Tamburin oder Schellen auf Taktzeit 1 und 3 kann noch schnell jemand dazu schlagen. Vielleicht spielt jemand im Dorf Djembée oder Trommel? Die Gottesdienstteilnehmer könnten auch aufgefordert werden, ihr Rhythmusinstrument, die Hände, als Verstärker des Tanzliedes zu gebrauchen. Klatschen ist ein Ausdruck der Freude. Die Bäume klatschen vor Freude in die Hände über die Ankündigung, dass das in Gefangenschaft, in der Fremde lebende Volk wieder heimkehren darf (Jesaja). So sollen die Hände klingen und tönen und den Körper wecken und lebendig werden lassen.

 

Es wäre auch möglich, nur den zweiten Teil des Refrains von allen singen zu lassen. Dieses Tanzlied könnte auch an anderer Stelle des Gottesdienstes wieder Verwendung finden als eine Art Halleluja, als Bestätigung der Freude, des befreiten Lebens, als ein Ja-Sagen zum eben gehörten Text. Wer es einmal wagt, dieses Lied im Gottesdienst singen zu lassen, wird gute Erfahrungen damit machen.

 

Sphamandla Nkosi/Gott, gib uns Stärke (RG 840)

In der gleichen Manier wäre auch dieses Lied zu singen: Mit rhythmischer Verstärkung durch Klatschen, durch kleine Schlaginstrumente wie Schlaghölzer oder Trommeln, Bongos oder Djembées. Auf La la la, Deutsch, Englisch oder Zulu (das im Okungesabi oder siyawadinga wunderbar rhythmisch klingt). Ist vielleicht ein afrikanischer Musiker im Gottesdienst engagiert (siehe Angebote in den Kulturheften)? Dann kann mit ihm zusammen dieses Lied sein Gewand und seinen Inhalt noch stärker und farbiger werden lassen.

Simon Jenny