Meine Kirche in der Nähe

   

 

An einem schönen Sonntagnachmittag sitze ich vor meinem Laptop, um den Artikel für diese Broschüre zu verfassen und überlege, wo oder vielleicht eher was denn meine Kirche in der Nähe ist.

Ist es die reale Kirche in Gerzensee, die ich in knapp fünfzehn Minuten zu Fuss erreiche oder deren Glocken, die ich am besten bei Ostwind hören kann? Sind es nur das Gebäude und die Glocken oder sind es die Gottesdienste, die Abendgebete oder die Zeiten der Stille in der Karwoche?
Ist es das passive Zuhören und dabei Sein oder das aktive Gestalten und Mitmachen? Ist es der Pfarrer, die Organistin oder sind es die anderen Kirchgängerinnen und Kirchgänger? Ist es das Wort Gottes, die Orgelmusik oder das Gespräch mit den Männern und Frauen beim Kirchenkaffee?
Muss es denn überhaupt in der Kirche sein, braucht es dazu den sakralen Raum? Kann meine Kirche in der Nähe nicht ebenso gut im offenen Kornhaus der Kirchgemeinde Gerzensee sein, beim Billardspiel, beim Scrabble, bei Geburtstagswein und Circus-Küchlein? Braucht es die Institution Kirche überhaupt?

 

Meine Kirche in der Nähe spüre ich auch hier, wo ich gerade sitze und diese Gedanken spinne.

Hier auf dem Sädel, auf der Veranda unseres Stöcklis, wo ich das Plätschern des Brünnleins höre, ab und zu das Blöken unserer Schafe, das Rauschen des Windes in den Bäumen. Hier, wo ich vor zehn Minuten noch die grossartige Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau bestaunen konnte und jetzt nur noch ein graues Wolkenband auszumachen ist.
Hier, wo in der Hofstatt jedes Jahr von neuem zuerst die Kirschbäume und etwas später die Apfelbäume ihre weissen Blütenschleier tragen. Hier, wo die verschiedenen Pfingstrosen ihre weissen, rosa und dunkelroten Blüten in voller Pracht entfalten. Hier, wo mir im Frühling die Holunderblüten entgegenduften, köstlichen Sirup und im Herbst leckeren Gelée bescheren.
Hier, wo ich bei meinem täglichen Gang in den Hühnerhof von den Hühnern mit lautem Gegacker willkommen geheissen werde und die mir mein um sie Kümmern mit Eiern danken.

 

Meine Kirche in der Nähe beginnt morgen

Morgen, wenn ich zusammen mit dem Pfarrer die sechs Konfirmierten der Kirchgemeinde Gerzensee auf ihre Konfirmationsreise nach Paris begleiten darf, findet für mich auch Kirche in der Nähe statt. Wenn ich mit ihnen den Eiffelturm besteige und von dort einen ersten Eindruck von der Weltstadterhalte, fühle ich mich dem Himmel und dadurch dem Göttlichen ein Stück näher.
Wenn ich mich zum xten Mal von der Grossartigkeit des Raumes und den Impressionisten im Musée dOrsay verzaubern lasse und wenn ich den Jugendlichen etwas von der Schönheit und der Geschichte der Sacré Coeur erzählen kann, kommt so etwas wie Spiritualität auf. Wenn ich mit ihnen das leichte Gruseln und gleichzeitig die Ehrfurcht vor den Millionen Gebeinen in den Catacombes empfinde, wird mir meine Endlichkeit bewusst, finde ich aber auch Trost.
Wenn ich sehe, wie sich die Jugendlichen nach kurzer Zeit sicher durch das Labyrinth der Metro bewegen, kann ich sie voll Vertrauen in das «Gewusel » der Autos und Menschen auf der Champs Elysées entlassen. Und wenn ich nach drei Tagen Paris in ihren müden Gesichtern die glänzenden Augen sehe und beim Abschied den dankbaren Händedruck spüre, ist das wie ein Gebet für mich.

 

Weitere Fragen und eine Antwort

Doch wie steht es mit der Kirche in der Nähe in meiner Partnerschaft und mit meinen Söhnen? Bei meinen Eltern und mit meinem Bruder? Bei meinen Freundinnen, Bekannten und Verwandten? An meinem Arbeitsplatz?

 

Es bleiben ein paar Fragen, es fehlen ein paar Antworten, aber eines ist mir klar geworden:

meine Kirche in der Nähe ist in dies allem und noch in vielem mehr!

Verena Kaiser Tanner