Offensive Nähe und notwendige Distanz

   

 

Beobachtungen aus dem Pfarralltag und dem Neuen Testament

«Weit weg vom Geschütz gibt´s alte Krieger» antwortete mir neulich ein älterer schwerhöriger Mann, als ich ihn bat, doch im Gottesdienst weiter vorne zu sitzen, wo die Akustik besser sei. Offensichtlich war ihm in der Nähe des Altarraums unwohl und er wählte für sich eine Position, wo für ihn das Verhältnis von Distanz und Nähe stimmte. Im Pfarramt begegnen mir Menschen, die sehr unterschiedliche Bedürfnisse nach Nähe haben. Und in jedem Gottesdienst ist das Phänomen zu beobachten, dass sich die Kirche von hinten nach vorne füllt. Es gibt so etwas wie eine Scheu, dem «Heiligen», sei es Altarraum, Kanzel oder Prediger zu nahe zu treten.

 

Auch im Alltag begegnen die meisten dem «Herrn Pfarrer» mit freundlicher Distanziertheit und wohlwollendem Vertrauen. Es überrascht mich immer wieder, wie schnell sich fremde Menschen öffnen und sehr Persönliches erzählen. Aber meistens sind dies punktuelle Momente der Nähe, die Grundhaltung bleibt eher eine distanzierte. Und das ist auch gut so in einer Landeskirche. Natürlich gibt es auch die, welche einem ziemlich auf den Pelz rücken und intensive Nähe suchen. Wie die blutflüssige Frau im Neuen Testament sehnen sie sich nach Nähe, Wahrgenommenwerden und Heil. Je mehr man diesen Bedürfnissen nachgibt, desto intensiver werden sie verlangt. Hier braucht es eine professionelle Distanz, auch wenn einem die damit verbundenen Bauchpinseleien und Vertrauensbezeugungen gut tun.

 

Sehnsucht nach heiliger Nähe

Hier auf dem Land im katholischen geprägten Solothurn fällt auch auf, mit welchem Respekt das Amt betrachtet wird. Die Pfarrperson wird bei allen öffentlichen Veranstaltungen eingeladen und ist oft Ehrengast bei Vereinsjubiläen, Einweihungen und Generalversammlungen. Mit der Einladung der Pfarrperson ist zugleich der Wunsch nach Feierlichkeit, echter Begegnung und ein wenig «heiligem Glanz» verknüpft.

 

Es ist manchmal gar nicht so einfach, Privatperson zu sein. Jeder Einkauf im Dorfladen wird zur Alltagsseelsorge und beim Volleyball in der Männerriege kriegt man ein «Aber, Du als Pfarrer!» zu hören, wenn einem ein paar Kraftausdrücke rausrutschen, weil der Ball im Nirvana gelandet ist. Und ich wage die Behauptung, diese Erwartungshaltung unterscheidet den Pfarrberuf von den anderen kirchlichen Berufen.

 

Offensive Reinheit

Beim Thema Nähe und Distanz sind wir im Herzen jeder Religion, auch wenn wir als Reformierte uns noch so sehr bemühen, die Grenze zwischen Profanem und Heiligen so transparent wie möglich zu halten. Auch Jesus und Paulus haben in ihrer Verkündigung völlig selbstverständlich die religiösen Gefühle ihrer Umwelt akzeptiert. Die neutestamentlichen Kategorien für Nähe und Distanz sind Reinheit und Unreinheit. Hier steht das frühe Christentum dem Pharisäismus, einer Laienbewegung, die priesterliche Ideale vertritt, sehr nahe.

 

In Alltag und Kultus bleibt das Bedürfnis nach Reinheit bestehen, z.B. beim Essen und in der Sexualität. Vor Gott tritt man nur mit reinen Händen und Herzen in den kultischen Waschungen, aus denen sich die einmalige Taufe entwickelt hat, wird aus dem alltäglichen Vorgang des Waschens ein spiritueller Ritus. Wer rein geworden ist, der kann aus der Distanz in die Nähe Gottes gelangen.

 

Entscheidend im frühen Christentum wird die Umwertung von einer defensiven zu einer «offensiven Reinheit», wie der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger dieses Phänomen genannt hat.

 

In Mk 7 spiegelt sich die pharisäische Diskussion mit Jesus über die Reinheit. Nach pharisäischem Verständnis ist Unreinheit ansteckend und man muss sich davor hüten, mit der Unreinheit in Berührung zu kommen. Jesus dagegen argumentiert, dass der Ursprung von rein und unrein aus dem Herzen kommt. Jesus und die Jünger «besitzen» den heiligen Geist, der die ursprünglich trennenden Unreinheiten beseitigt, ja sogar umkehrt. So kann die als unrein geltende blutflüssige Frau durch die Berührung geheilt werden.

 

Nach Paulus werden ungetaufte Kinder oder Ehepartner, die als unrein gelten, z.B. weil sie Heiden sind, durch den christlichen Lebenspartner geheiligt (1 Kor 7,14). Jesus und die Jünger verfügen durch den Geist über die Vollmacht, Dämonen zu vertreiben, d.h. sie grenzen die Besessenen nicht aus, sondern wenden sich ihnen aktiv zu.

 

Auch in unseren Gemeinden heute wünschte ich mir mehr von dieser offensiven, ansteckenden Heiligkeit, die sich nicht in die Ecke drängen lässt. Ganz im Sinne der offensiven Reinheit und bedingungslosen Nähe, die Jesus und Paulus vorgelebt haben, sind die zahllosen diakonischen Aktivitäten unserer Kirche.

 

Dort, wo Menschen aufgrund ihrer Behinderung, ihrer Sexualität, ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status ausgegrenzt in antikem Denken: für unrein erklärt werden, dort sollten Christenmenschen diese Grenzen offensiv und furchtlos überschreiten und Nähe suchen. Dies gehört zu den unaufgebbaren Kernkompetenzen.

 

Balance zwischen Nähe und Distanz finden

Das Kirchensonntagsthema «Kirche in der Nähe» sollte nach meinem Dafürhalten aber nicht nur einseitig so verstanden werden, dass wir Christenmenschen nun ständig ausschwärmen, um allem und jedem auf den Pelz zu rücken. Nah sein ist noch kein Wert an sich viel wichtiger ist die Balance zwischen Nähe und Distanz.

 

Wir Reformierten können nicht so tun, als ob uns die geschilderten urreligiösen

Bedürfnisse und Verhaltensweisen nichts angehen. Wer sich hinten in die Kirche setzt, wählt ganz bewusst seine eigene Distanz zum Heiligen.

 

Und manchmal tut es eben gut, sich näher ans Feuer zu begeben, um sich aufzuwärmen und manchmal sieht man es lieber aus der Ferne. Und wenn ich es richtig beobachte, haben Rituale und Stille auch im reformierten Gottesdienst wieder mehr Boden gewonnen. Im Umgang mit Taufe und Abendmahl sollte eher wieder eine gewisse Sorgfältigkeit und Wertschätzung aufscheinen. Hier täte in einigen Fällen mehr Distanz gut, um dem Heiligen mehr Raum zu verschaffen wenn Brot und Wein nur noch der Geselligkeitspflege dienen, ist etwas schief gelaufen.

 

Gerade bei Taufen ist zu beobachten, wie das uralte Ritual der Reinigung und Heiligung besonders auch der Kirche entfremdete Menschen in seinen Bann zieht. Auch Ausgetretene sehnen sich nach Nähe und Zuwendung Gottes, die sie meinen in unseren Kirchen nicht mehr zu finden, weil wir ihnen mit unseren Ansprüchen zu schnell auf den Leib gerückt sind, was naturgemäss Absetzbewegungen produziert. Wer hier vorschnell die Zugangsmöglichkeiten zum Heiligen regulieren möchte, argumentiert im Grunde aus einer ähnlich defensiven Grundhaltung wie die pharisäische Bewegung. Wohlgemerkt, es gibt auch gute Gründe, in bestimmten Fällen nicht zu taufen, aber im Vordergrund steht die offensive Haltung, dass Gottes Geist ansteckend ist.

 

Wir brauchen selbst wieder mehr innere und äussere Rückzugsmöglichkeiten durch Gebet, Rituale und Gottesdienste, damit wir uns anstecken lassen können vondieser offensiven Kraft des Heiligen Geistes. Der Glauben wird immer ein unverfügbares  Geschenk bleiben, das weder Laien noch Ordinierte verwalten oder produzieren können. Weil Gott selbst die Grenze zu uns Menschen in Jesus überwunden hat, können wir unbefangen auf andere zugehen. Und vielleicht können die, welche sich von uns distanziert haben, sich dann auch wieder annähern. Lassen wir die Schwerhörigen in der letzten Reihe sitzen, rücken wir ihnen nicht auf den Leib, drängen wir sie nicht näher zum Heiligen der Heilige Geist erreicht auch taube Ohren.

Stephan Hagenow-Bardet