Nähe ist Diakonie - häusliche Gewalt passiert auch in der Nähe

   

 

«Nähe ist Diakonie» ging mir durch den Kopf, als ich gefragt wurde, ob ich fürs Kirchensonntagsheft einen Artikel verfasse. «Nähe ist Diakonie» lautete 2003 der Titel eines der sechs Kampagneplakate des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der Auftrag an mich beschränkt sich aber nicht aufs Beschreiben dieser Nähe. Ich soll sie mit jener Gewalt verbinden, die Menschen in ihrer allernächsten Umgebung trifft: mit der häuslichen Gewalt.

 

Häusliche Gewalt

«Wir sprechen von häuslicher Gewalt, wenn Personen innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder ehe-ähnlichen Beziehung physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen» (Definition des Berner Interventionsprojekts bip). Häusliche Gewalt kommt unabhängig von Schichtzugehörigkeit, Alter, Zivilstand, Zahl der Kinder, Nationalität und Wohnort vor. Ihr liegen verschiedene, in sich greifende Ursachen zu Grunde. In 80% der Fälle wird sie durchMänner ausgeführt.

 

Der Kirchensonntag 2004 war der Dekade zur Überwindung von Gewalt gewidmet. Die Vorbereitungsgruppen stützten sich auch auf das Begleitheft «Gewalt eine mächtige Herausforderung» ab; und damit auf viele der hier aufgenommenen Fakten zur häuslichen Gewalt. Ich setze das dort vermittelte Wissen voraus. Die kostenpflichtige Broschüre kann bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Bereich Gemeindedienste und Bildung, bestellt werden.

 

Geändert hat sich seither, dass:

Behörden von Amtes wegen einschreiten müssen, wenn sie erfahren, dass es zwischen Ehegatten und LebenspartnerInnen zu körperverletzenden Tätlichkeiten gekommen ist.
die kantonalbernische Polizei (potentielle) Täter/innen sofort anweisen kann, während 14 Tagen die Wohnung und den Nahraum der bedrohten Familienmitglieder nicht mehr zu betreten. Sie kann diese sogar bis zu siebenTage in Gewahrsam nehmen.

 

Die Zeiten der gesellschaftlichen Akzeptanz der körperlichen und psychischen Verletzung unter Familienangehörigen sind somit endgültig vorbei oder doch nicht?

 

Die Medienmeldungen «Ehemann tötet seine Familie» oder «Überforderte Mutter nahm ihr Kind mit in den Tod» wirken noch immer verkaufsfördernd. Wir lesen diese und wiegen uns in der beruhigenden Scheinsicherheit, dass sich so etwas in unserer Nähe, in unserer Gemeinde nicht ereignen kann.

 

Den Nährboden entziehen

Der diakonische Auftrag an die Kirchgemeinden beinhaltet den «solidarischen Dienst an allen Menschen, ganz besonders aber an den Bedrängten, Benachteiligten und Notleidenden» und deren Pflicht, das zu unterstützen, «was Leben, Würde, Freiheit und Recht der Menschen schützt» (Kirchenordnung Artikel 76).

 

Der diakonische Auftrag richtet sich an alle in der Kirchgemeinde:

an die Pfarrerin
den Sozial-Diakonischen Mitarbeiter
die Sigristin
den Katecheten
die Jugendarbeiterin
den Spielgruppenleiter
das ehrenamtliche Kirchgemeinderatsmitglied
die Einzelnen, die zur Kirchgemeinde gehören

 

Wir sind miteinander aufgerufen, der häuslichen Gewalt den Nährboden zu entziehen. Mit Blick auf die am Schluss zusammengestellten auslösenden Faktoren bedeutet dies:

über die häusliche Gewalt reden: Nach wie vor sind die innerfamiliären erniedrigenden, verletzenden Handlungen an den pflegebedürftigen alten Familienmitgliedern ebenso wenig ein Thema wie jene zwischen Geschwistern
klar und deutlich die häusliche Gewalt verurteilen
zusammen mit anderen darauf hinwirken, dass die übrigen auslösenden Faktoren auf gesamtgesellschaftlicher Ebene verschwinden
sich ganz gezielt für die Erhaltung von Zukunftsperspektiven für alle Jugendlichen einsetzen
die Räume anderer respektieren und einfordern, dass die eigenen auch respektiert werden
die Berner Erklärung bekannt machen: www.regionbern.ch/upload/allgemeine/files/BernerErklaerung.pdf
eigene Konflikte offen in einem fairen Prozess lösen
achtsam sein und bewusst auf Menschen zugehen, die kein engeres Beziehungsnetz in der Nähe haben
gezielt Begegnungsräume für alle in der Gemeinde schaffen
Hilfreiche Adressen von Beratenden an einem sichtbaren Ort anbringen
Zugang zur Sozial- und Familienberatung schaffen: Berner Eheberatung

 

Diakonie geschieht nie im Alleingang

Der diakonische Auftrag beinhaltet die Aufgabenteilung innerhalb und unter denKirchgemeinden sowie zwischen den einzelnen hier wirkenden Menschen. Er ruft dazu auf, uns vor Ort, auf regionaler, Bezirks- und Kantonsebene zu vernetzen. In diesem Sinne stiftet er Nähe innerhalb der Kirchgemeinde, vor Ort und über den Wohnort hinaus. Und er stiftet Nähe zwischen uns allen, die wir gleichzeitig Fürsorgeempfänger/innen und Fürsorgetätige, Anwälte/innen und Vertretene sind; formuliert in Anlehnung an das Konzept «Caring Citizens». Dies ist ein Modell der fürsorgenden BürgerInnengesellschaft der niederländischen Ethikerin Selma Sevenhuijsen. Sie und andere Ethikerinnen halten fest, dass alle Menschen grundsätzlich der Fürsorge anderer bedürfen und gleichzeitig in der Lage sind, Fürsorge zu geben.Bedürftigkeit und Seelsorge sind demzufolge in der politischen sowie meiner Ansicht nach auch in der diakonischen Praxis neu zu gestalten.

 

Auslösende Faktoren häuslicher Gewalt (hG):

auf der gesellschaftlichen Ebene

stillschweigendes Gutheissen der hG
Tabuisierung der hG
Privatisierung der hG
Armut
Erwerbslosigkeit

 

innerhalb der Familie

Isolation, fehlende gesellschaftliche Integration
Machtungleichheit und Abhängigkeiten
in der Kindheit erlittene hG
existentielle Nöte
Beziehungsängste, Kommunikationsdefizite
geringes Selbstwertgefühl
andauernde Erwerbslosigkeit
Alkohol, Drogen

Beatrice Pfister