Gott feiern: Einfach der Nase nach

   

 

Sich mit der Nase erinnern

 

Vor einiger Zeit habe ich meine alte Schule besucht – nach Jahrzehnten. Ein Geruch dort wie vor Jahr und Tag. Sofort fühlte ich mich wie die Schülerin damals. Als ob die Zeit der langen Abwesenheit ins Gestern geschrumpft wäre: Szenen der Schulzeit traten in meine Erinnerung und die alten Ängste und Erwartungen regten sich unter dem Staub des Vergessens: Eine Nase voll Geruch versetzt uns in die Vergangenheit.

 

Mehr noch: Wer einen geliebten Menschen verloren hat, weiss, wie schwer es ist, sich von seinem Geruch zu verabschieden. Sein Duft hängt in den Kleidern, in den Gegenständen, die seinen Alltag ausmachten. Eine Nase voll davon und der oder die Vermisste ist wieder ganz nah - bis der Schmerz des Wissens die tröstliche Ahnung zerschlägt.

 

Die menschliche Nase und die damit verbundenen Organe des Geruchsinnes sind empfindlich und empfänglich und ihre Stellung und Vernetzung im Gehirn tragen wesentlich dazu bei, dass wir unseren Ort in Raum und Zeit, in Nähe und Distanz  finden. Unser Geruchssinn macht uns nicht nur unser Leben schmackhaft, er führt uns auch tief in unsere eigene Vergangenheit zurück und er schafft Beziehung schneller und subtiler als Auge und Ohr. Ob wir jemanden gut riechen können, ob uns jemand stinkt, wird uns vielleicht bei der ersten Begegnung gar nicht bewusst. Dass wir aber einen Menschen für attraktiv halten, dass er uns gefällt, bestimmt aber wohl eher unsere Nase als Augen und Ohren.

 

Gerüche und Düfte spielen auch im Leben und Feiern vieler Religionen eine bedeutende Rolle. Weihrauch, wohlriechende Öle, duftende Opfergaben sind aus vielen Liturgien nicht wegzudenken. Auch aus unserem Kulturkreis nicht, selbst wenn sich im christlichen Kult seit der Reformation unterschiedliche Gottesdienstkulturen entwickelt haben und wir heute in unseren Kirchen meistens viel zu hören, manches zu sehen und wenig zu riechen bekommen. Wie riechen unsere Kirchen? Wenig gelüftet, frisch geputzt, verstaubt oder renoviert? Oder duften sie nach dem geheimnisvoll Heiligen?

 

Ich selbst bin in den katholischen Traditionen gross geworden, und da gehört zumindest an den Hochfesten der Duft von Weihrauch zu den sinnlichen Wahrnehmungen des Gottesdienstes. Ob allerdings die Mitfeiernden den Inzens, -  das heisst, das Beräuchern der Heiligen Schrift, der Opfergaben, des Altars und aller am liturgischen Geschehen Beteiligten, also auch der versammelten Gemeinde -, verstehen und bewusst und sinnlich mitvollziehen, ist zu bezweifeln. Wer denkt schon daran, dass sich die ganze Versammlung mitsamt des Raumes und seines Inventars mit dem Weihrauchduft festlich schmückt und auf das Gott-Feiern vorbereitet, und dass der Duft eine Nasenfreude sein soll, die Stimmung und Konzentration heben will?

 

Mit Düften halten wir uns zurück in unseren Gottesdiensten. Schade, dass wir liturgisch so wenig auf jenes Sinnesorgan des Menschen setzen, das so sehr unser Erinnerungsvermögen unterstützt. Oder sind wir gerade deshalb so zurückhaltend, weil manche empfindliche Nase nicht nur allergisch auf den Weihrauch reagiert, sondern auch auf die damit verbundene Kindheitserinnerung an jene Festtage, die nach einem Gemisch aus Weihrauch, Kerzenbrand und Menschenleibern rochen, das uns damals die Luft nahm, so dass uns nicht nur aus Enge und Langeweile übel wurde?

 

Es wäre gewiss eine Herausforderung, unser Gott-Feiern so sinnlich und sinnvoll zu gestalten, dass es uns mit Leib und Seele beträfe und wir mit allen unseren Sinnen dem näher kämen, was uns der Begriff „Gott“ nicht enthüllen kann.

 

Wie riecht Gott?

 

Was für eine Frage! – Der aufgeklärte Verstand verbietet sich menschgestaltige Gottesvorstellungen: Dass Gott eine Nase habe, mit der er Düfte wahrnehmen kann, glaubt doch – trotz der vielen Gottesbilder in Literatur und Kunst – niemand ernsthaft. Und dass Gott einen ihm eigenen Duft habe, ist eine nicht weniger abenteuerliche Vorstellung.

 

Gleichwohl sind unsere heiligen Schriften, die Bücher Israels und der Christen, die in Europa eine lange Geschichte hindurch Gottesvorstellungen und Gottesbilder geprägt haben, voller Düfte und Gerüche, und die spielen nicht nur in der Beziehung von Mensch zu Mensch und von Mensch zu Welt, sondern auch in der Beziehung von Mensch zu Gott eine bemerkenswerte Rolle.

 

Vom Riechen Gottes

 

Von Gerüchen und Düften ist in der Bibel vom ersten bis zum letzten Buch die Rede. Im Buch Genesis findet sich eine Begebenheit, die uns illustriert, dass Riechen und Geruch Mittel der gott-menschlichen Beziehungspflege sind:

 

Als Noah nach dem Versiegen der Sintflut wieder festen Boden unter den Füssen hat und Gott seine Errettung mit einem Brandopfer dankt, heisst es in Gen 8,21f:

 

Und der HERR roch den wohlgefälligen Geruch, und der HERR sprach in seinem Herzen: Nicht noch einmal will ich den Erdboden verfluchen wegen des Menschen; denn das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an; und nicht noch einmal will ich alles Lebendige schlagen, wie ich getan habe. Von nun an, alle Tage der Erde, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. – Es ist der Geruch des Opfers, der den Zorn Gottes besänftigt und den Fluch zum Segen macht. Gott mag das vom Menschen dargebrachte Opfer gern riechen, auch wenn ihm die Bosheit des Menschenherzens stinkt. Gott lässt sich von den menschlichen Versuchen und Bemühungen, mit ihm in Beziehung zu treten, bewegen, auch wenn er um die Verdorbenheit dieser Geschöpfe weiss.

 

Der Wohlgeruch des Brandopfers, der Gott besänftigende Duft, der von ihm aufsteigt, begleitet die Opfervorschriften und das Opfergeschehen des mosaischen Gesetzes wie ein immer wiederkehrendes Musikmotiv. Als sei die im Opferrauch und Duft aufsteigende feinstoffliche Materie die einzige Speise, die der geistigen Natur Gottes entspräche.  Aber was ist das für ein Gott, der sich durch Menschengaben beeinflussen lässt, der sich am Bratengeruch ergötzt oder an verbranntem Fleisch Gefallen findet?

 

In all diesen Texten mag sich ein uraltes Opferverständnis vom Empfangen und Geben, von der Beschwichtigung göttlicher Mächte durch die Gabe des Menschen niedergeschlagen haben. Mit der Entwicklung der Gottesvorstellung in Israel von einer menschengestaltigen zu einer geistigen Grösse verändert sich jedoch auch der Sinn des Gott angenehmen Wohlgeruchs eines Opfers; der Wohlgeruch wird zum Bild für das Opfer selbst und zum Ausdruck für die intakte Beziehung zwischen Gott und Mensch. Das lässt sich etwa dort aus der Hl. Schrift herauslesen, wo die gestörte Beziehung mit den Motiven von Duft und Geruch verbunden ist. So verweigert der HERR durch die Propheten dem widersetzlichen Israel den Empfang des Opfers:

 

Wozu soll mir denn Weihrauch aus Saba kommen und das gute Würzrohr aus fernem Land? Eure Brandopfer sind mir nicht wohlgefällig, und eure Schlachtopfer sind mir nicht angenehm (Jer 6,20). – Ich hasse, ich verwerfe eure Feste, und eure Festversammlungen kann ich nicht mehr riechen (Amos 5,21).

 

Was will auch eine Gemeinde mit Weihrauch und Opferduft ihren Gott feiern, wenn ihre Ungerechtigkeit zum Himmel stinkt?  Zum wohlgefälligen Duft wird der Gottesdienst der Menschen nur dort, wo das alltägliche Leben von der Gott-Mensch-Beziehung geformt wird.

 

Vom Duft Gottes

 

Sehr viel seltener sprechen die heiligen Schriften vom Duft Gottes, obgleich den alten Kulturen die Vorstellung vertraut war, dass die Gegenwart des Göttlichen zu riechen sei. In den frühjüdischen Schriften und in den Texten des frühen Christentums klingt dieser Gedanke an. So verströmt sich jene Weisheit, die aus dem Mund des Höchsten hervorgeht, wie der Duft von Zimt und wohlriechender Salbe (vgl. Sir 24,3.15). Der Duft wird hier zum Bild für die lebenspendende Beziehung Gottes zu den Menschen, und was sich zwischen Gott und Welt abspielt, ist hier so köstlich, blühend und anziehend dargestellt wie das Spiel der Liebenden im Hohenlied. Auch dort ist der Duft Ausdruck für die Attraktion und beglückende Nähe der und des Geliebten.

 

Für die ersten Christen ist Gottes Duft Christusduft, so der Apostel Paulus (2Kor 2,14ff). In ihrer Begegnung mit dem Messias, in ihrer Erfahrung seiner Nähe und Präsenz  verbreitet sich der Geruch der Erkenntnis Gottes in der ganzen Welt (vgl. ebd.). Denn sie können nicht ablassen vom Erlebten; es breitet sich aus wie der Duft  ausgegossenen Salböls.

 

Gott riechen

 

Es ist die Begegnung mit dem Messias, dem Christus, dem Gesalbten, welche die Jüngerinnen und Jünger umtreibt und zum Christusduft werden lässt in den Anfängen, wie in ihrer weiteren Geschichte. Gelegentlich erzählt die Legende von Heiligen, von deren Gräbern nicht Modergeruch sondern Wohlduft ausströmte (vgl. z.B. Gregor Magnus, Dialoge 4,27). Welchen Sinn haben solche Überlieferungen, wenn nicht den, dass da Menschen über den Tod hinaus zu Zeugen werden für das lebenspendende Ja Gottes zur Welt, und dass sich in ihrem Dunstkreis eine neue Qualität in der Gott-Mensch-Beziehung bemerkbar macht: Die menschgewordenen Zuneigung Gottes zu uns ist sinnenfällig, wahrnehmbar, mehr noch, sie lässt sich rühren, berühren und anrühren, sie wird greiflich und begreifbar. Unfassliches zum Anfassen.

 

Wo wird uns das eindrücklicher vorgeführt, als in jenen Szenen der Evangelien, die von Jesu Salbung durch eine Frau erzählen? Was den Umstehenden zum Skandal wird: die Berührungen, das duftende Öl und seine Verschwendung, die körperliche Nähe, Küsse und Haare, das alles lässt Jesus zu und an sich heran; in der konventionell verbotenen, sinnlich-körperlichen Nähe erschliesst sich der Grund seiner Existenz: Liebe, Versöhnung, Sterben und Leben. Diese tiefgründig-intensive Begegnung zeigt Wirkung, sie wird riech- und ruchbar: Das Haus wird erfüllt vom Duft des Öls, (vgl. Jo 12,3), und überall auf der Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man sich an sie erinnern und erzählen, was sie getan hat (Mk 26,13).

 

… riechbarer Christusduft…

 

Ich erinnerte mich an die Jesus salbende Frau vor einigen Wochen, als ich eine ayurvedische Hand- und Fussmassage bekam. Die Situation war mir fremd. Aber der exotische Duft des Massageöls liess mich an Tage im Orient denken, an die Gewürzhändler dort und an Weihrauch und Räucherwerk in Kirchen und Tempeln.

 

Während der Massage meiner Hände und Füsse bemerkte ich, dass diese Berührungen Erinnerungen weckten, die an die früheste Zeit meiner Kindheit reichten. Ein tiefes Gefühl von Geborgenheit nahm mich ein. Es hatte nicht nur mit mir und meiner Vergangenheit zu tun, es hatte auch mit der Begegnung zu tun, die sich da ereignete zwischen zwei ganz fremden Frauen. Indem ich meine Hände und Füsse in die Hände der anderen legte, indem sie meinen Händen und Füssen mit ihren Berührungen wohltat, wurde da nicht an den Grund meiner Existenz gerührt: Liebe, Versöhnung, Sterben und Leben? - Eine Nähe zwischen zwei Menschen, die über sich hinauswies.

 

Das berührte mich sehr. Und es gab mir zu denken, wie Düfte und Berührungen mich in die Tiefen meines Lebens führen und welche spirituelle Dynamik sie in Gang setzen können. Ich war dankbar, dass ich Gutes erfahren hatte. Wäre es anders gewesen, was hätte es ausgelöst und wie hätte ich reagiert? – Angst, Schmerzen, Panik, Flucht…?

 

Ich dachte an die Salbungen vor und nach der Taufe im altchristlichen Ritus, an ihre Bedeutung, das Böse abzuwehren und die Abwehrkräfte zu stärken, an ihre Bedeutung, die Gemeinschaft mit Christus und die Heiligung durch Gottes Geist leibhaftig werden zu lassen. Berührungen und Sinneseindrücke, die gewiss unter die Haut gingen, manches lösten und auslösten, jedenfalls aber Erlösung spürbar machen wollten. Was ist davon übriggeblieben im Lauf der Jahrhunderte?

 

Ein kleines symbolisches Zeichen, eine mehr angedeutete als eindrückliche Berührung, ein kaum wahrnehmbarer Geruch – ein Geschehen an der Oberfläche, weil wir uns tiefere Berührung nicht mehr zutrauen und nicht zumuten?

 

Der Versuch, mit allen Sinnen, also auch mit der Nase, Gott zu feiern, ist riskant, weil wir nicht abschätzen können, welche Gefühle, welche Erinnerungen in uns freilegt werden, welche Bewegung in unserem Inneren angestossen wird. Aber birgt nicht gerade dieses Risiko die Chance der Gottesbegegnung? Dürfen wir solches Risiko wagen?

 

Behutsamkeit bei der Wahl der richtigen Form und des richtigen Masses und Sorgfalt bei der Erschliessung der Symbolik könnten solche Versuche zu einer Bereicherung unseres liturgischen Feierns und Erlebens werden lassen. Wir könnten in einem Wortgottesdienst etwa unsere Gebete und Fürbitten mit dem Duft von Weihrauch verbinden: Wie Weihrauch steige mein Gebet auf zu Gott (vgl. Offb 8,4).

 

Oder wir könnten in Gottesdiensten, in denen wir Lebenswendepunkte feiern, Segnungen mit einem Salbungsritus verbinden: Stirn und Hände gesalbt mit einem duftenden Öl als besonderes Zeichen der Würdigung, der Stärkung, der Beauftragung: Du bist Christusduft für Gott in jenem Lebensabschnitt, an jenem Lebensort, an dessen Schwelle du jetzt stehst, und geheiligt sei dein Ort, deine Zeit in Gottes Zuneigung zu dir (vgl. 2Kor 2,15).

 

Und vielleicht würde uns eines fernen Tages dieser Duft von irgendwoher anwehen und wir erinnerten uns an einen Segen, den wir einmal empfangen haben, und an jene Zuneigung, die uns ein für allemal zugesprochen worden ist und weiter reicht als all unser Vergessen.

 

Hildegard König

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