Quellen der Gastfreundschaft

   

 

Pilgerweg zu spirituellen Quellen der Gastfreundschaft

 

Wir stehen in der postmodernen und globalisierten Welt heute vor einer Vielzahl  von Herausforderungen, an deren Beantwortung sich die Zukunft der Menschheitsfamilie und des gesamten Ökosystems „Erde“ entscheiden wird. Wir alle sind „zu Gast auf einem schönen Stern“ (H. Thielicke), aber es hat den Anschein, dass dieser Stern auf eine irreversiblen Weise geschädigt und zerstört wird, wenn es der Menschheit nicht gelingt, eine neue Bewusstseinsstufe zu erlangen, deren wichtigstes Grundbekenntnis lauten muss: „We are one!“ - wie es der international bekannte, kanadische Wirtschaftsberater Lance Secretan formuliert.

 

Alle großen Menschheits- und Kulturkrisen erweisen sich aber als zutiefst spirituelle Krisen. Ihnen war und ist allein mit politischen, wirtschaftlichen und technischen Mitteln nicht beizukommen. Wenn es aber um zutiefst spirituelle Krisen geht, dann braucht es für ihre Lösung sowohl Spiritualität wie Inspiration! In beiden Worten ist der Begriff  Spirit enthalten: Geist! Geht es aber um einen neuen Geist, dann stellt sich die Frage, woher dieser Geist ins Dasein tritt und wie er das Leben zu verwandeln vermag.

 

Um dieser Frage nachzugehen, brauchen wir – dies ist mein Eindruck - mehr denn je die Rückkehr zu den alten und unverbrauchten spirituellen Traditionen, in denen das Leiden und die Liebe, die Irrtümer und Neuanfänge, die Qualen und die Humanität der Menschheit gleichsam gebündelt vor unser Auge treten. Dieser Weg zurück zu ältesten Quellen von Weisheit, Religion und Glaube ist jedoch in Wahrheit kein Umweg, sondern der kürzere Weg, um aus Sackgassen und Holzwegen herauszukommen. Denn es zeigt sich, dass wir bei allen größeren sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen, ob im Blick auf Familie und Erziehung oder im Blick auf humanes Management oder die nachhaltiges Wirtschaften, so etwas wie Distanz und Trennschärfe benötigen, um nicht „Gefangene des Systems“ zu bleiben und in pragmatischem Krisenmanagement stecken zu bleiben. Solche Distanz gewinnen wir im Aufsuchen alter Quellen des Menschheitswissens und der Spiritualität.

 

Spiritualität als Suche nach einem neuen Geist mündet schließlich in die Frage nach Gott selbst und seinem Wesen und Wollen. Wenn Gastfreundschaft zutiefst eine spirituelle Frage ist und heute sogar in ökologischer und globaler  Hinsicht zu einer Überlebensfrage schlechthin wird, dann wird sie nur dort gedeihen, wo wir diese Welt als Gottes eigenes Gast-Haus erkennen, uns als Gottes Gäste verstehen und annehmen und uns seiner göttlichen Gastfreundschaft zu verdanken lernen. Sie wird nicht gedeihen, wenn Gott selbst im Haus der Welt als unwillkommener Gast gilt, da er doch in der biblischen Überlieferung gerade als der „Gastgeber aller Völker“ (Jesaja 25) bekannt gemacht wird!

 

Darum ist Gastfreundschaft im Kern nicht nur eine spirituelle, sondern eine eminent theologische Frage.

 

Im Folgenden lade ich ein zu solch einer spirituellen Entdeckungsreise, zu einem geistlichen Pilgerweg zurück zu alten Lebensorten und Erfahrungsstätten der Gastfreundschaft. Sie mögen uns anmuten wie ein fremdes und untergegangenes Land. Aber kaum, dass wir es betreten, wird etwas in uns geweckt, das uns Perspektiven und Kräfte zuwachsen lässt für unseren Weg in eine bedrohungsreiche Zukunft.

 

 

Abraham – oder: Von einem, der Gott den Tisch deckt

 

„Und der Herr erschien Abraham im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war.

Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde und sprach:

Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so geh nicht an deinem Knecht vorüber.

Man soll euch ein wenig Wasser bringen, eure Füße zu waschen, und laßt euch nieder unter einem Baum.

Und ich will euch einen Bissen Brot bringen, daß ihr euer Herz labt; danach mögt ihr weiterziehen“ (Gen.18,1-5).

 

So eine Geschichte entsteht in einer Kultur, in der Gastfreundschaft höchstes Gebot und daher so selbstverständlich ist wie die Gewohnheit, mit der man morgens aufsteht und abends zu Bett geht. Durch solche Gastfreundschaft wird das Leben menschlich und es entsteht ein Stück Lebenskunst, in der Fremde zueinander finden.

Vor allem aber erweist sich Gastfreundschaft als eine Möglichkeit, Gott zu begegnen. Dabei betont die alte Erzählung, dass Gott inkognito kommt: Drei Männer nähern sich dem Zelt Abrahams. Und Abraham hat keine Ahnung, wer ihm in diesen Fremden begegnet. Er beugt sich vor ihnen zur Erde, als begrüße er Gott in ihnen, ohne es auch nur zu ahnen. Seine Gastfreundschaft geschieht absichtslos, sie ist kein Mittel zum Zweck. Aber als die Speisen aufgetragen werden, sitzt Gott als Gast zu Tisch und erfährt die Freundlichkeit dieses Menschen. Eine umgekehrte Eucharistiefeier: Gott schmeckt und sieht, wie freundlich Abraham ist!

 

Dass Gott als Gast zu uns kommt, bleibt seitdem im Gedächtnis von Juden und Christen haften und prägt ihr Leben: „Gastfrei zu sein vergesst nicht, denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Hebräerbrief, Kapitel 13,1).

 

Gastfreundschaft wird erlernt an einer alten Geschichte wie der aus Genesis 18. Im Blick auf die Kirche kann Abrahams Gastfreundschaft zum Leitbild  werden, das Passanten und Pilger, Fremde und Freunde umsorgen möchte wie Ehrengäste. Im Anschluss an das neutestamentliche Gleichnis vom Großen Weltgericht (Matthäus 25) ist sogar zu sagen: Christus selbst zieht bis heute mit allen Fremdlingen und Heimatlosen, also auch mit allen modernen „Nomaden“ auf Grund globaler Umwälzungen durch die Welt und wartet mit ihnen auf Gesten der Barmherzigkeit, und sei es nur ein Becher Wasser und eine Bettstatt in der Nacht.. Er befindet sich auch an der Seite der vielen „Kirchenfremden“ und religiös Unbehausten. Und erst am Ende der Tage erfahren die, die Gastfreundschaft in Gruß, Herberge und Fürsorge gewähren, wem sie solche Barmherzigkeit erwiesen; fragen sie in diesem Gleichnis doch ahnungslos: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben?“ (Matthäusevangelium, Kapitel 25,37).

 

Gastfreundschaft wird zum Ort der Gottesbegegnung. Profanes wird heilig, der Alltag verheißungsvoll und das Leben des Gastgebers gesegnet, ohne dass darauf spekuliert würde. Wem jeder Gast willkommen ist, kann darum unverhofft Boten Gottes begegnen, die eine größere Freude hinterlassen als die, die ihnen zuvor bereitet wurde. In Genesis 18 ist am Ende der Gastgeber der Beschenkte: Abraham empfängt die Zusage, dass seine Frau Sara nach jahrelangem Warten einen Sohn bekommen wird.

 

Gelebte Gastfreundschaft ist eine Weise, offen zu werden für Gott selbst, für den durch die Welt wandernden Christus, der sich niedersetzen will als Gast an unserem Tisch, nicht ohne hernach ungeahnte Zukunftsmöglichkeit als Gastgeschenk zu hinterlassen.

Somit ist Gastfreundschaft eine Form von Spiritualität im Umgang mit Menschen, worin Gott selber erfahrbar wird.

 

 

Jesaja – oder: Von Gott, der allen den Tisch deckt

 

Wird Abraham nichts ahnend zum Gastgeber Gottes, so erweist sich Gott als künftiger Gastgeber aller Menschen. Es gehört zu den Zukunftserwartungen und -verheißungen in der Bibel, dass Gott sich einmal allen Völkern offenbaren wird und dabei den Menschen ein Fest ohne Grenzen bereitet. „Und der Herr wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist. Und er wird auf diesem Berge die Hülle wegnehmen, mit der alle Völker verhüllt sind, und die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind. Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der Herr hat‘s gesagt“ (Jesaja 25, Vers 6-8).

 

Nicht zu überbieten ist diese Ansage. Noch sind die Einladungskarten nicht gedruckt, die in alle Welt gehen, aber schon hat der Prophet die Festpläne Gottes veröffentlicht. Gott kommt - und ein Fest beginnt. Grenzenlos, multikulturell und international. Gott erweist sich als Gastgeber für die gesamte Menschheit.

 

Das Fest, das er stiftet, ist ein Fest der Versöhnung, der Verwandlung und Neuschöpfung: Altes wird neu, und Entfremdung verwandelt sich in Nähe und Vertrauen. Die internationale Stimmung ändert sich sozusagen schlagartig und global:

 

Gott nimmt „die Decke von den Augen der Völkerwelt“: die Teilnahme am Fest Gottes führt zu Gotteserkenntnis und Glauben. Gott „verschlingt den Tod auf ewig“: Das Festmahl eröffnet unvergängliches Leben. Gott wird „die Tränen abwischen“ von allen Angesichtern: Gottes Fest hat therapeutische und tröstende Kraft. Und schließlich wird Gott „die Schmach seines Volkes aufheben“: Es ist das Fest der Rehabilitation derer, die Unrecht und Demütigungen erlitten haben. Alle verletzenden Erfahrungen können ausheilen.

 

Gott kommt, das Fest beginnt und - der Mensch atmet auf und wird frei!

Gottes Gastfreundschaft führt zur Metamorphose der Welt.

Aus Unglaube wird Vertrauen.

Aus Tod Leben.

Aus Tränen Freude.

Aus Schmach unversehrtes Recht.

 

 

Jerusalem – oder: Schmeckt und seht, wie freundlich der Herr ist!

 

Was der Prophet Jesaja ansagt, war den Menschen in Israel nicht gänzlich neu. Es lag vielmehr auf der Linie ihrer bisherigen Erfahrung mit dem Gott Abrahams oder Moses. Denn Gott hatte doch schon in der Wüste Manna und Wachteln spendiert, und das neue Land, zu dem man unterwegs war, werde, gemessen an der Wüste, ein Land sein, in dem Milch und Honig fließt.

 

Im Gedenken an die Taten Gottes wuchs der Festkalender Israels und bestimmte den Rhythmus des Jahres und des Lebens. Der Tempel wurde zum Ort, wo Gottes Gastfreundschaft leibhaftig erfahren und genossen wurde. Diese Erfahrung hatte zugleich Bedeutung für das menschliche Miteinander: Ist Gott selbst „das bergende ‚väterliche‘ Lebenszentrum“, dann wächst in seinem Umkreis eine „neue Geschwisterlichkeit“. „Sie wächst dann, wenn sich Menschen unter den Augen Gottes zum Fest versammeln (vgl. Deuteronomium, Kapitel 16,9-12). Geschwisterlich wird das Volk im Fest. Dies war die Erfahrung des Volkes Israel: Ins Fest zog ein sozial zerküftetes Volk ein, Freie und Sklaven, Frauen und Männer, Fremde, Waisen und Witwen. Im Fest wurden sie unter den Augen Gottes ein Volk, in dem jede und jeder den Ehrennamen ‚Du‘, das schmückende Wort ‚Volksgenosse‘ erhielt. Das Fest unter den Augen Gottes wurde der Ort zur sozialen Neuformung eines Volkes von Menschen mit gleicher Würde“ (P. M. Zulehner, Das Gottesgerücht, S.71.73)

 

Noch ein weiterer Aspekt der Gastfreundschaft tritt am Tempel von Jerusalem in den Blick:  dort gehört Gastfreundschaft in den Zusammenhang einer Rechts- und Schutzordnung, wie sie für alle alten Kulturen von zentraler Bedeutung war. Das Aufsuchen des Tempels bedeutet den Eintritt in ein persönliches Schutzverhältnis. Besonders akut gilt das für die Armen und Rechtlosen, die angesichts erfahrener Bedrängnis ohne Lobby, ohne Fürsprecher und ohne Rechtshelfer sind. Einer, der tiefstes Leid und völlige Wehrlosigkeit gegenüber seinen Feinden erfahren hat, darf Rechtsschutz im Hause Gottes genießen. Nach seiner Errettung und Rehabilitation durch den priesterlichen Freispruch wird er vor der Gemeinde Gott, dem schützenden Gastgeber seinen Dank abstatten: „Dich will ich preisen in der großen Gemeinde, ich will meine Gelübde erfüllen vor denen, die ihn fürchten. Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden; und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen; euer Herz soll ewiglich leben“ (Psalm 22,27-28).

 

Wenn in einer Heils-Weissagung des Propheten Sacharja gesagt wird, dass „zehn Männer aus allen Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist“ (Sacharja, Kapitel 8,23), dann bedeutet das: Gott will über sein Volk Israel hinaus zum Asylgeber und Rechtshelfer für alle Menschen werden. „‚Am Gewand fassen‘ ist der rechtssymbolische Ausdruck für den Eintritt in ein persönliches Schutzverhältnis; man wurde dadurch ein kultberechtigter Jude“ (P. M. Zulehner, S.34).

 

Schließlich ist daran zu erinnern, dass die Tischgemeinschaft in der Antike in den Horizont von Bundesschlüssen und Friedensverträgen gehört. Tischgemeinschaft beendet eine vorangegangene Fehde oder Feindseligkeit. Sie besiegelt Frieden und Versöhnung.

 

In diesen Traditionen dachte, glaubte und handelte auch Jesus. In immer neuen Bildern nimmt er diese uralten Gotteserfahrungen auf und wandelt sie zu Gottesverheißungen, die alles Bisherige überbieten. Die Gastfreundschaft Gottes wird im Wirken Jesu als Vorabbildung für die das kommende und ewig währende Reich Gottes.

 

 

Jesus – oder: Die Hochzeit der Sünder

 

Jesu Wirken ist durchzogen und geprägt von seiner Mahl- und Tischgemeinschaft mit den unterschiedlichsten Menschen und zu den verschiedensten Anlässen. Er sitzt mit Freunden zu Tisch und mit Skeptikern, er feiert mit Armen und religiös Ausgegrenzten, er speist das Volk unter freiem Himmel und bereitet nach seiner Auferstehung im Morgengrauen am See seinen Jüngern ein Mahl. Tischgemeinschaft gehört offenbar zum Herzstück seines gesamten Wirkens.

 

Oft befindet sich Jesus dabei in der Rolle des Gastes. Aber bei näherem Hinsehen spielt er auf geheimnisvolle Weise eher die Rolle des Gastgebers und Hausherrn. Er initiiert Tischgemeinschaft mit Leuten, die es gar nicht gewagt hätten, ihn einzuladen. Jedenfalls kennt Jesus für das Zusammensein mit ihnen keine Vorbedingungen. Es herrscht Freizügigkeit und Bedingungslosigkeit.

 

Keinesfalls geht es in der Tischgemeinschaft Jesu mit den Menschen etwa nur um Gemeinschaft oder gar geselliges Beisammensein.

War Gastfreundschaft, wie wir sahen, ein Rechtsinstitut, so nimmt sie den Gast in Schutz. Jesus führt Menschen in den Schutzbereich Gottes, wenn er mit ihnen Mahl hält. Das gilt gerade für die Schuldigen. Die Tischgemeinschaften Jesu sind messianische Zeichenhandlungen, die sagen: Gott im Himmel hat dich angenommen, dir vergeben und dich unter seinen persönlichen Schutz gestellt! Das Mahl mit den Verlorenen ist in der Praxis Jesu die Verleiblichung der Vergebung durch Gott.

 

Wiederholt spielt bei Jesus der Wein eine Rolle. „Weinstock, Trauben, Weinberg und Winzer, Gärung und Schläuche sind für ihn immer wieder Bilder für das Reich Gottes. Schließlich fasst er seine ganze Sendung zusammen und reicht beim Abendmahl Wein als Symbol für seinen Bund. Denn schon längst vorher sind im Judentum Weinstock und Wein Zeichen für den Messias. Wasser war dafür ungeeignet, denn Wasser bedeutet nur das Überleben, nacktes Dasein. Wein dagegen ist mehr, ist wie Öl, das zweite messianische Zeichen, umgeben mit einem Hauch von Luxus... So wird der Wein zum Zeichen der glücklichen Zeit, die mit ihm (Jesus) beginnt“ (Klaus Berger, Wer war Jesus wirklich, Stuttgart 1995, S.49). Das Johannesevangelium lässt mit der Geschichte von der Hochzeit in dem Dorf Kana (Johannesevangelium, Kapitel 2) das gesamte Wirken Jesu sogar mit der Verwandlung von Wasser in Wein beginnen: „So offenbarte er seine Herrlichkeit!“

 

In einer Auseinandersetzung, die Jesus einmal mit Kritikern führt, zitiert er, was ihm vorgeworfen wird: Er sei ein „Fresser und Weinsäufer“ (Matth. 11,19). So nennen ihn offenbar gewisse Leute, die ihm skeptisch gegenüber stehen. Und Jesus verwahrt sich gegen diese Titulierung nicht; auch nicht gegen den Zusatz, er sei ein „Freund der Zöllner und Sünder“, das heißt „Freund der Kollaborateure und Unreinen, der schmierigen kleinen Erpresser und derer, die deshalb am Rande des Judentums standen, weil sie als arme Schweine sich mit der römischen Besatzungsmacht eingelassen hatten. Ab und zu wird die Reihe der Zöllner und Sünder auch um die Huren erweitert, um Menschen insgesamt, die um des Geldes zum Überleben willen ihren Leib und ihre Würde verkaufen“ (Klaus Berger, Wer war Jesus wirklich, S.43). Bei seinen Mählern ist Jesus um seinen Ruf offenbar völlig unbekümmert, er kümmert sich nicht um das, was man ihm nachruft. Jesu Reinheit ist „offensiv“. Er kann nicht unrein werden durch die Berührung mit den Unreinen und Stigmatisierten, sondern es ist umgekehrt: Seine Reinheit färbt auf sie ab.

 

Jesus „ehrt... die hungrigen, korrupten Gestalten mit messianischem Wein“, dem „Realsymbol des Messias“ (S.44). Und damit macht er an den Grenzfällen des gesellschaftlichen Zusammenlebens deutlich, dass das Reich Gottes die Aufhebung aller Schranken in der unbegrenzten Gastfreundschaft Gottes ist.

„Seitdem wird das Mahl für immer zur Mitte all derer sein, die sich auf Jesus berufen, ...die Mitte alles Christlichen“ (ebd.), das Erkennungszeichen schlechthin für das, was Nachfolge heißt.

 

In der Tischgemeinschaft Jesu und in seinen Gleichnissen wird Gastfreundschaft zum „Geburtsraum neuen Lebens“. Das Evangelium ist die Einladung zu einer umfassenden Neuorientierung. Gott, der ewig Neue, führt uns Menschen von Neuanfang zu Neuanfang. So führt er uns in die Freiheit der Gotteskindschaft, heraus aus Bindungen und Festlegungen, in denen unser Leben verkümmert, verkommt, verflacht oder vertrocknet. Gottes Ziel ist der freie Mensch, frei in einem Raum der Geborgenheit, die es nur gibt in der lebendigen Verbundenheit mit Ihm, dem Schöpfer des Lebens.

 

Die Einladung zu dieser umfassenden Neuorientierung kommt uns in der Verkündigung Jesu als Ruf zur Umkehr entgegen. Dieser Ruf ist bei Jesus radikal, das heißt, er rührt an die Wurzeln unseres Lebens. Und gerade darum vermag er, in die Freiheit zu führen. Umkehr wird als Neugeburt erfahren.

Eine Geburt braucht aber einen geschützten, bergenden Ort der Fürsorge und Sicherheit. So bedarf auch die geistliche Neugeburt eines solchen Ortes. Diesen Ort beschreibe ich in diesem Buch als Ort der Gastfreundschaft. Umkehr wird dort leichter, wo ein Milieu des Vertrauens herrscht und wo ein Mensch die Erfahrung machen kann, willkommen zu sein.

 

Gastfreundschaft ist ein solches Milieu, wo ein Mensch angenommen ist, wie er ist - und gerade darum nicht bleiben muss, wie er ist! Gastfreundschaft ist bedingungslos - und gerade darum nicht folgenlos. Gastfreundschaft ist der Geburtsraum eines neuen Lebens, das mit Gott, mit sich selbst und mit den Mitgeschöpfen versöhnt ist,  wo ein Mensch leben darf, ohne zensiert zu werden, um gerade so das noch Ungelebte und Unentdeckte eines freien, gottverbundenen und geschwisterlichen Lebens zu entdecken und zu erleben. Er kann hier einfach Station machen und ausruhen, niemand tritt ihm zu nahe oder begegnet ihm mit Forderungen. Und doch kann er gerade hier, wo er auf seinem Weg ankommen, ausruhen und durchatmen kann, ahnen, dass er in einem viel grundsätzlicheren Sinn zu einer Reise berufen ist: zu einer Pilgerreise von Gott her zu Gott hin. Es ist eine Wanderung in das Land geborgener Freiheit.

 

Gastfreundschaft gehört in einer zunehmend misstrauischen Welt zu einer Kultur des Vertrauens, wo Gott selber wiedergefunden werden kann, der der große Gastgeber und Freund der Menschen ist. In wundervoller Weise wird das im Buch der Weisheit ausgesprochen:

 

Du erbarmst dich über alle; denn du  kannst alles, und du übersiehst die Sünden der Menschen, damit sie sich bessern sollen. Denn du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn du hast ja nichts bereitet, gegen das du Haß gehabt hättest. Wie könnte etwas bleiben, wenn du nicht wolltest? Oder wie könnte erhalten bleiben, was du nicht gerufen hättest? Du schonst aber alles; denn es gehört dir, Herr, du Freund des Lebens,

und dein unvergänglicher Geist ist in allem  (Weisheit 11,23-12,1).

 

 

Eine Stadtkirche im antiken Syrien – oder: Bethaus und Gasthaus

 

Mit dem folgenden Beispiel begeben wir uns in die Zeit der Spätantike. Es handelt sich um eine syrische Kirchenordnung aus dem 5. Jahrhundert, die für eine Stadtkirche verfasst wurde. Der Sache nach geht es um den Dienst der Diakone, tatsächlich jedoch ist dieses Dokument ein beeindruckendes Beispiel für ein Kirchenverständnis, das insgesamt auf dem Grundgedanken der Gastfreundschaft aufgebaut ist. Wie wir sehen werden, geht es um eine Verknüpfung Kirche und Hospiz, also von „Bethaus“ und „Gasthaus“ als den Mittelpunkt dieser Kirche, um den sich, konzentrischen Kreisen gleich, die Dienste der Diakone an den sozialen Brennpunkten der Stadt und in den Häusern der Armen vollziehen. - Das Ganze hat für mich einen ungeheuren Charme und ist von größter Aktualität. Über 1500 Jahre hinweg spüren wir hier etwas vom Pulsschlag einer Kirche, die offenbar in unverbrauchter Frische aus den Quellen des Evangeliums zu leben verstand.

 

Zunächst möchte ich die spannendsten Abschnitte für sich selbst sprechen lassen:

 

Abschnitt 1:

Der Platz der Priester und der Diakone soll hinter dem Presbyterium sein. Gleich bei der Kirche solle ein Hospiz sein, wo der Erzdiakon die Fremden empfängt.

 

Abschnitt 8:

Wie es recht und passend ist, geht der Priester zusammen dem Diakon in die Häuser der Kranken und besucht sie. Er überlegt sich, was er ihnen Passendes und Nützliches sagen kann, besonders den Gläubigen.

 

Abschnitt 10:

Der Diakon tut und teilt nur das mit, was der Bischof ihm aufträgt. Er ist Ratgeber des ganzen Klerus (!) und so etwas wie das Sinnbild der ganzen Kirche (!). Er pflegt die Kranken, kümmert sich um die Fremden, ist der Helfer der Witwen. Väterlich nimmt er sich der Waisen an, und er geht in den Häusern der Armen aus und ein, um festzustellen, ob es niemand gibt, der in Angst, Krankheit oder Not geraten ist. Er geht zu den Katechumenen in ihre Wohnungen, um den Zögernden Mut zu machen und die Unwissende unterrichten. Er bekleidet und ‚schmückt’ die verstorbenen Männer, er begräbt die Fremden, er nimmt sich derer an, die ihre Heimat verlassen haben oder aus ihr vertrieben wurden. Er macht der Gemeinde die Namen derer bekannt, die der Hilfe bedürfen. Dabei soll er dem Bischof nicht lästig fallen und ihm nur am Sonntag Bericht erstatten, damit dieser über alles auf dem Laufenden ist.

 

Abschnitt 12:

Wenn der Diakon in einer Stadt tätig ist, die am Meere liegt, soll er sorgsam das Ufer absuchen, ob nicht die Leiche eines Schiffbrüchigen angeschwemmt worden ist. Er soll sie bekleiden und bestatten. In der Unterkunft der Fremden soll er sich erkundigen, ob es dort nicht Kranke, Arme oder Verstorbene gibt, und er wird es der Gemeinde mitteilen, dass sie für jeden tut, was nötig ist. Die Gelähmten und die Kranken wird er baden, damit sie in ihrer Krankheit ein wenig aufatmen können. Allen wird er über die Gemeinde zukommen lassen, was Not tut.

 

Abschnitt 13:

Man soll für jede Gemeinde 12 Priester, 7 Diakone und 14 Subdiakone aufstellen, und die Witwen,, denen beim Gottesdienst ein bevorzugter Platz links hinter den Priestern zukommt, seien 13 an der Zahl. Wer aus den Diakonen der eifrigste und der beste Verwalter ist, soll ausgewählt werden, um die Fremden zu empfangen. Er soll ständig im Gästehaus der Kirche erreichbar sein, weiße Kleider und die Stola über der Schulter tragen.

 

Abschnitt 14:

Der Diakon wird in allem wie das Auge der Kirche sein; er wird sich Mühe geben, ein Vorbild der Frömmigkeit zu sein.

 

Was in diesem alten Dokument zunächst auffällt, ist die Verbindung von Gastfreundschaft und Besuchsdienst in den Häusern der Armen, Kranken und Notleidenden. Damit bekommt Gastfreundschaft auch eine Geh-Struktur: Menschen willkommen heißen und Menschen an ihren Lebens- und Leidensorten aufzusuchen, dies gehört hier untrennbar zusammen.

 

Zweitens bedarf es dafür eine geschärfte Wahrnehmung, ein regelrechtes Suchen und Aufsuchen, das bis zum „Absuchen“ des Strandes nach Schiffbrüchigen reicht, die bestattet werden sollen! „Was für ein ergreifendes Bild! Hier ist nichts mehr zu missionieren! Hier geht es nur noch um die Würde der Toten: dass ihre Blöße bedeckt wird, ihr Leichnam nicht den streunenden Hunden am Strand überlassen bleibt“ (Zerfaß, aaO.). Eine solche Gastfreundschaft ist also radikal: sie hat auch noch ein Herz für die Verstorbenen und gibt ihnen ihre Würde!

 

„Es gibt also keine Berührungsängste. Armut und Elend sind Realitäten, denen gegenüber die Gemeinde sich nicht abschottet, sondern bewusst öffnet. Das wird besonders deutlich gegenüber jener Gruppe ‚Asozialer’, mit denen man in einer antiken Großstadt besonders schlecht umgehen kann: gegenüber den Fremden, ‚die ihre Heimat verlassen haben oder aus ihr vertrieben wurden’. Sie sind ja besonders dubios: Es gibt noch keine Reisepässe und noch keine Polizei, die die flüchtenden Verbrecher unter ihnen aussondern würde; man weiß nicht, ob sie Seuchen einschleppen und der Stadt mehr Ärger als Gewinn einbringen. Es gibt keine Hotels, allenfalls Bordelle und die berüchtigten ‚insulae’, riesige Mietshäuser, in denen sie unter katastrophalen Verhältnissen hausen. Genau dorthin schickt die Gemeinde ihren Diakon“ (R. Zerfaß).

 

Schließlich finden wir neben der Kirche das Hospiz, also eine Suppenküche und Herberge. Wer hier an die Türe klopft, wird wie ein Ehrengast aufgenommen, wer immer er sein mag, was darin zum Ausdruck kommt, dass der Gästediakon stets das gottesdienstliche Gewand trägt!

 

 

Benedikt von Nursia – oder: „… als nähme man Christus auf!“

 

Von inspirierender Kraft für den Umgang mit Gästen und für eine Gastfreundschaft, die in einer tiefen Spiritualität gegründet ist, ist die Ordensregel des Heiligen Benedikt von Nursia (geb. um 480, gest. frühestens 547). Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass er seine Ordensregel in der Zeit der Völkerwanderung schreibt. Gewaltige Migrationsströme bedrohten und veränderten alle gesellschaftlichen und sozialen Gefüge. Vor dieser Kulisse ist die Ordensregel, die Benedikt entwirft, geradezu atemberaubend mutig. Im 53. Kapitel lesen wir:

 

Von der Aufnahme der Gäste

Alle Gäste, die zum Kloster kommen, werden wie Christus aufgenommen; denn er wird einst sprechen: „Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt.“ Allen erweise man die ihnen gebührende Ehre, besonders den Glaubensgenossen und den Pilgern. Sobald also ein Gast angemeldet ist, gehen ihm der Obere und die Brüder in vollkommener Erfüllung christlicher Liebespflicht entgegen...

 

Bei der Begrüßung selbst zeige man vor allen Gästen große Demut: Wenn sie kommen und wenn sie gehen, verneige man vor ihnen das Haupt oder werfe sich ganz zur Erde nieder und verehre so in ihnen Christus, den man in ihnen ja auch aufnimmt.

 

Gastfreundschaft bedeutet für den Hl. Benedikt Offenheit gegenüber dem anderen Menschen, und zwar besonders gegenüber dem Fremden, von dem man nicht weiß, wer er ist, was er glaubt, welche Herkunft und Andersartigkeit ihn prägt. Er könnte - im damaligen gesellschaftlichen Kontext - auch ein Strolch oder gar ein entflohener Verbrecher sein!

 

„Es war (in der Antike; d. Vf.) Brauch, den Fremdling nicht erst nach dem Mahl nach Namen und Herkunft zu fragen. Der Gastgeber konnte so weder vorab feststellen, ob sich die Einladung lohnen würde, noch herausbekommen, ob er vielleicht einen unbequemen Gast bei sich aufnimmt. Uneigennützig, aus Gottesfurcht und aus Menschenliebe, sollte Gastfreundschaft gewährt werden“ (Hans-Jürgen Benedict).

 

Gastfreundschaft hat immer etwas Wehrloses und Verletzliches. Gastfreundschaft kann missbraucht, ausgenutzt und enttäuscht werden. Und doch geht sie zunächst einmal nicht vom schlimmsten Fall aus.

 

Woher rührt dieser Mut und diese Freiheit zum Vertrauen? Bei Benedikt ist es das Wissen um die verborgene Gegenwart Jesu Christi in einem uns noch fremden und unbekannten Menschen. Um Christi willen geschieht die Zuvorkommenheit und Ehrerbietung, die dem Gast zuteil wird. Und diese Ehrerbietung beginnt in der Regel Benedikts  schon mit dem Grüßen, in dem der Gastpater sich vor dem fremden Gast in Ehrerbietung zu verbeugen hat.

 

Damit nimmt Benedikt das biblische Verständnis des Grußes auf. In der hebräischen Sprache ist „(be)grüßen“, „jemandem Glück wünschen“ und „segnen“ sogar dasselbe Wort (barach). - Der Gruß kann sich zum segnenden Gruß, zum Segensgruß und Segenszuspruch erweitern bzw. verdichten. Jesus sendet seine Jünger in die Häuser der Menschen mit dem Friedensgruß „Friede (Schalom) sei mit diesem Haus!“ - Dieser Gruß ist mehr als ein frommer Wunsch, er ist Wirkwort, Zeichen und Zuspruch der Nähe Gottes. Der Friedensgruß stellt Gott selbst zwischen den Grüßenden und den Gegrüßten. Er öffnet die menschliche Begegnung auf Gott hin und für Gottes eigenes Gegenwärtigwerden.

 

In den Anweisungen Benedikts über den Umgang mit Gästen heißt es nun weiter:

Nach dem Empfang führe man die Gäste zum Gebet. Dann setze sich der Obere oder ein anderer in seinem Auftrag zu ihnen, und man lese ihnen zur Erbauung aus der Heiligen Schrift vor. Hierauf erweise man ihnen alle Gastfreundschaft. Der Obere soll eines Gastes wegen das Fasten brechen... Der Abt gieße den Gästen Wasser über die Hände. Die Fußwaschung nehme der Abt zusammen mit der ganzen Gemeinschaft an den Gästen vor. Nach der Fußwaschung beten sie: „Wir haben, o Gott, deine Barmherzigkeit aufgenommen inmitten deines Tempels.“ Ganz besondere Aufmerksamkeit zeige man bei der Aufnahme von Armen und Pilgern, da in ihnen Christus ganz besonders aufgenommen wird. Bei den Reichen bewirkt nämlich bereits das Gebieterische ihres Auftretens Ehrerbietung.

 

Die Küche für den Abt und für die Gäste sei für sich.; so stören die Gäste, die zu unbestimmten Zeiten ankommen und im Kloster niemals fehlen, das Leben der Brüder nicht. Den Dienst in dieser Küche übertrage man jeweils für ein Jahr zwei Brüdern, die ihn gut erfüllen können. Je nach Bedürfnis gebe man ihnen Gehilfen, auf dass sie ohne Murren ihrer Aufgabe nachkommen...

 

Dreierlei fällt an diesen Anweisungen auf:

Erstens die Verbindung von Bewirtung und Gebet. Benedikt schlägt sogar vor, die Gäste zuerst mit Gebet und Bibellesung zu „bewirten“ und erst danach mit Speise und Trank. Beten gehört zu den „Haussitten“ der Ordensgemeinschaft. Es ist wie in einer Familie: Kommt ein Gast zu uns, wird er aufgenommen in unser Haus, in unsere Gemeinschaft und in unseren Lebens- und Glaubensvollzug. Ein Gast hat nicht das Recht, dass die Haussitten fallengelassen werden. Essen und Danken sind im christlichen Leben miteinander verknüpft.

 

Zweitens enthält die benediktinische Regel einen sozialen Aspekt. Tischgemeinschaft ist eine hervorragende Weise, den Verachteten und Armen zu ehren.

 

Drittens betont Benedict die Gegenwart Christi, von der her alle Tischgemeinschaft zuletzt in den Horizont eines eucharistischen Geheimnisses gerät. Das eucharistische Festmahl will sich fortsetzen in der Umsorgung des Gastes, der an der Klostertüre anklopft.

 

Wolfgang Vorländer

Aus: Wolfgang Vorländer, Vom Geheimnis der Gastfreundschaft, Giessen 2007

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